Peter-Michael Sperlich...................................................................................................................... - zurück zu Index Erzählungen
Dorfidylle – eine Glosse
Pünktlich um sechs Uhr beginnen die Glocken der Dorfkirche zu läuten. Glocken sind Rufer, normalerweise, aber so früh? Für wen und wohin rufen sie? Die Kirche ist geschlossen. Ist das ein Morgengruß für den Angestellten, der gerne noch bis sieben Uhr geschlafen hätte oder für den Heimkehrenden Schichtarbeiter, der jetzt gerne schlafen würde? Ein alteingesessener Dorfbewohner klärt auf: „Das ist Tradition. Das ist noch von früher, als die Leute noch nicht alle Uhren oder Wecker hatten. Das hieß ‚Aufstehen! Raus aus den Federn! Auf die Felder!‘“
Dabei ist es dann geblieben. Inzwischen dreht sich der Angestellte einfach auf die andere Seite, hört gar nicht mehr hin. Und der Schichtarbeiter steckt sich Ohropax in die Ohren und hört auch nichts mehr. Bedenklich, bedenklich, wenn niemand mehr hinhört auf das Rufen.
Um sechs Uhr zehn dann die ersten Autotüren, Anlasser, der Motor springt sofort an. Aha, jetzt geht es zur Arbeit. Da müsste der Nachbar ja schon vor den Kirchenglocken … egal. Es ist heute so schönes Wetter. Die Sonne freut sich über das friedliche Dorf, das so malerisch in die Landschaft gebettet ist. Als der Nachbarssohn um sieben Uhr aus der Haustür tritt, greift die Freude auch auf ihn über. So möchte er heute endlich mal wieder mit dem Motorrad, das seit drei Monaten nur so herumsteht, zur Arbeit fahren. So einfach ist das aber nicht. Startversuch – kurzer Aufschrei des Motors – Stille. Nach dem zehnten Aufschrei ein Dauerknattern – bremmm – brembrembrem – breeeheeem – er läuft! Jetzt nur nicht ausmachen, schön laufen lassen, den restlichen Kaffee am Frühstückstisch austrinken, die Tasche und alle Motorradutensilien nehmen und nach zehn Minuten ist auch der Motor so weit warm, dass er nun ruhig läuft – und auf geht’s. Jetzt startet auch der Lastwagen, der unweit geparkt war, das Quad von weiter oben saust vorbei und auf der Landstraße hinter dem Ortsschild kann der Fahrer des getunten Autos endlich so richtig aufdrehen. Gut, dass man jetzt in Ruhe schön gemütlich frühstücken kann, begleitet von dem monotonen Brummen des Mähdreschers vom gegenüberliegenden Feld. Aber die Ernte muss ja schließlich eingebracht werden. Einfach nicht hinhören!
Halb neun. Der erste Nachbar wirft seinen Rasenmäher an. Stolz schreitet er hinter dem Gerät über seinen Rasen. Das Ding scheint neu zu sein, es fährt fast von alleine, muss wohl einen Antrieb haben. Sein vorheriger hatte einen Benzinmotor, der noch ein Stück lauter war. Nach der Hälfte der Rasenfläche macht der Nachbar aber erst mal eine Pause. Die andere Hälfte hebt er sich immer für die Mittagszeit auf. Auf jeden Fall muss das der Nachbar vom überübernächsten Haus gehört haben. Kaum hat der eine aufgehört, wirft der andere seinen Mäher an. Zwei Häuser weiter sägt der Mann, der alle nur denkbaren Geräte und Maschinen besitzt, jetzt Steinplatten zurecht, die er für die Neugestaltung seines Gartens braucht. Zwischendurch auch noch schnell mal den Rasen motorvertikutieren. Es muss ja schließlich alles gemacht werden.
Nachdem zwei weitere Nachbarn ihrer Mählust nachgegangen sind, schiebt der nächste seine Kappsäge auf den Bürgersteig und stellt sie neben den Anhänger mit dem Meterholz. Klar, das passt ja nicht so lang in den Ofen, das muss man schon klein sägen, damit die Warmwasserbereitung, und im Winter die Heizung, nicht ins Stocken gerät. Mit Holz heizen, das nennt man Umweltbewusstsein: nachwachsender Rohstoff, CO2-neutral, kein Öl, kein Gas, das ist doch was.
Inzwischen ist es zwölf Uhr. Zeit fürs Mittagessen. Eine Elster auf dem gegenüberliegenden Dach keckert, eine Taube gurrt, eine Hummel brummt vorbei, eine Wespe möchte unbedingt auf meinen Teller. Natur pur.
Um halb eins tritt der Kappsägenmann wieder nach draußen. Mit vollem Magen sägt sich’s besser. Die Mittagszeit dauert für ihn genau die Minuten, die er braucht, um das Essen in den Magen zu befördern. Und schon liegt das erste Meterstück auf dem Sägetisch. Psiiiihiiiiii – Psiiiihiiiiii – Psiiiihiiiiii – klack – klack – klack – in die Schubkarre. Fleißiger Mann. Diese Arbeit wird ihn wohl die nächsten drei oder vier Tage beschäftigen, immer von halb eins bis fünf, Psiiiihiiiiii!
Der Steinsäger hat auch eine Mittagessenpause gemacht, sägt noch zwei Platten und begibt sich dann in seine zur Werkstatt umgebaute Garage, um eine andere Arbeit an der Bandsäge zu verrichten.
Ein Uhr. Wie schön. Der Nachbar von heute Morgen hat früher frei. Sicherlich wird er die freien Stunden genießen.
Plötzlich, ein Höllenlärm. Ein Motor. Im Garten. Hinterm Haus. Der Nachbar. Eine Motorheckenschere mit Schultergurt in beiden Händen. 40 Meter Hecke sind zu schneiden – 40 Meter!
Der Stundenzeiger nähert sich der fünf. Der Sportplatz beginnt sich zu beleben. Fußballtraining. Bälle, Stangen, Hütchen werden aufgebaut, ein Lautsprecher auch. Musik zur psychischen Entspannung und Motivation! – Uff -Uff – Uff – die Bässe dröhnen Power – in die Muskeln – in die Köpfe – in die Nerven. Ein Trainingsspiel. Rufen – Schreien – Pfeifen – Uff – Uff – Uff.
Neunzehn Uhr. Gemütlicher Trainingsausklang. Ob da einer Geburtstag hat. Was wird denn da gefeiert? Lachen - Bässe – Rufen – Bässe – Uff – Uff - Uff. Fröhliches Beisammensein. Um 23 Uhr entdecken die Anwesenden ihre Liebe zum Chorgesang: Wolfgang Petry, Helene Fischer, Andreas Banani oder so ähnlich. „Ein Hoch auf unser Leben…“ Einer singt „Das ist Wahnsinn“ und jetzt alle „Hölle, Hölle, Hölle“.
Reimt sich das nicht fast auf „Idylle“?
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