Drei Wünsche sind zu viel...............................................................................................................>> zurück zu Index Erzählungen

Bruno Heller drehte den Heißwasserhahn der Dusche etwas stärker auf, damit er noch mehr die wohlige Wärme, die seinen Körper durchströmte, genießen konnte. Mit einem Seufzer schloss er die Augen und überließ sich völlig diesem Moment des Wohlbefindens. Er liebte sie, diese fünf Minuten, in denen er seine Wirklichkeit mit den Wasserstrahlen hinwegspülen ließ und ganz er selbst sein durfte. War nicht so einem Ungeborenen zumute, geborgen in der sanften Wärme des Fruchtwassers, abgeschirmt und beschützt vor der kalten Welt, von der es noch nicht berührt werden kann? Ein Lächeln zauberte sich auf sein Gesicht, als seine Gedanken ei­nige Jahre zurückschweiften und er sah, wie er damals seine kleine Tochter gebadet hatte. Wel­ches tiefe Gefühl der Zufriedenheit und des Glücks hatte er jedes Mal in ihren Augen und ihrem Gesicht lesen können, wenn er sie behutsam im Wasser hin und her geschaukelt und sie vor Vergnügen frei und ohne beengende Windeln gestrampelt und gekräht hatte, der ganzen Welt zujubelnd: „Ich lebe!“
Die Stimmen und Unterhaltungen seiner Arbeitskollegen, die rechts und links unter den ande­ren Duschen standen, brachten ihn in den Duschraum zurück. Seine Hand tastete nach dem Heißwasserhahn, zögernd, ja beinahe widerwillig drehte er ihn so weit zu, dass das Wasser nun fast kalt war und seine Poren wieder schloss. Dann stellte er die Dusche ganz ab und ging durch die dichten Dampfschwaden hinüber in den Umkleideraum, nahm sein Handtuch aus dem Spind und begann sich abzutrocknen.
„Herrlich“, sagte er zu seinem Arbeitskollegen und Freund Wolfgang Osterrath, der gerade erst hereingekommen war und sich anschickte, selbst in den Duschraum zu gehen, „nach so einer Dusche fühlt man sich wie neugeboren!“
„Ich weiß, ich weiß“, antwortete dieser, „ich bin nur ein bisschen spät dran heute. Ich musste noch ein Werkstück fertig machen. Warte bitte auf mich!“
Dieser Bitte hätte es eigentlich nicht bedurft, denn seit neunzehn Jahren verließen beide immer gemeinsam nach Arbeitsschluss den Betrieb, es sei denn, dass einer von ihnen einmal krank gewesen war, aber das war außerordentlich selten vorgekommen.
Bruno zog sich gemächlich fertig an, faltete seinen Arbeitsanzug zusammen, steckte ihn in seine Tasche, weil er über das Wochenende gewaschen werden sollte, schloss schließlich den Spind ab und schlenderte hinüber zum Fenster des Umkleideraumes, von dem man das gesamte Gelände der WIMA GmbH & Co. überblicken und normalerweise auch zum nach rechts lie­genden Petersberg hinaufschauen konnte. Aber heute war von ihm nichts zu sehen, der nasskühle Novembertag hatte ihn mit seinen tief hängenden Nebeln fortgezaubert, und auch die Konturen der weiter hinten stehenden Gebäude der Firma zerflossen in der diesigen Luft.
Wenn Bruno nicht genau gewusst hätte, dass es erst halb vier Uhr nachmittags war - sie hatten freitags nämlich schon um drei Uhr Feierabend -, hätte er denken können, dass schon der Abend hereingebrochen sei, denn es war einer von diesen typischen, der Jahreszeit gemäßen Tagen im Rheinland, an denen eine Nacht nur in die nächste hinüberdämmert.
Die großen roten Leuchtschriftbuchstaben des Firmennamens auf dem Dach der Produktions­halle schienen in einem magischen, wie ein bengalisches Feuer anmutenden Feld zu schweben­, verursacht durch Milliarden feinster Wassertröpfchen, von denen jedes für sich seinen Teil Licht reflektierte, die aber erst in ihrer Gesamtheit diesen unwirklichen Effekt hervorriefen.
„Wie der lockende Eingang zu einer anderen Welt“, dachte er bei sich und versuchte gleichzei­tig, sich an einen Film zu erinnern, den er vor kurzem gesehen hatte und in dem ein solches ma­gisch leuchtendes Tor vorgekommen war, das verblüffende Ähnlichkeit mit dem sich seinen Augen darbietenden Phänomen hatte.
„So, ich bin fertig“, sagte es plötzlich hinter ihm mit Wolfgangs Stimme, und zum zweiten Mal musste er heute aus seiner Fantasie in die Wirklichkeit zurückkehren.
Sie stiegen die Treppen bis ins Erdgeschoss hinunter, durchquerten die Eingangshalle des Gebäudes, die modern und mit verschiedenen Sitzgruppen eingerichtet war, wünschten dem Pförtner ein frohes Wochenende und traten durch eine der beiden großen Drehtüren hinaus ins Freie auf die Straße.
„Brr“, schüttelte sich Wolfgang, „so ein scheußliches Wetter“, und klappte seinen Mantelkra­gen hoch. „Dann wollen wir mal“, fügte er noch hinzu, als sie sich nach links wandten und die Straße hinuntergingen, einem Ritual folgend, das von ihnen seit Jahren freitags in beständiger Regelmäßigkeit zelebriert wurde. Die Anzahl der Schritte bis zu ihrem Ziel waren längst gezählt, die Reihenfolge der Geschäfte, die sich auf so einer Hauptstraße ansammeln, hätten sie selbst im Schlaf aufsagen können: Herrenkonfektion, Imbissbude, Supermarkt, Querstraße, Haushaltswaren, Bäckerei, Damenkonfektion, Schuhgeschäft, Geschenkartikel, Radio und Fernsehen, Buchladen, Lottoannahmestelle! Eintreten! „Hallo, guten Tag!“ „Na, wie geht's?“, Tippzettel nehmen, ausfüllen.
Bruno hatte vier Reihen Standard­zahlen, die er sogar im Traum gewusst hätte, und dazu setzte er jeweils zwei Reihen von je sechs Zahlen, die ihm der Augenblick eingab. Mit dem fertig ausgefüllten Zettel ging er auf die an­dere Seite zur Kasse, gab ihn ab, bezahlte und nahm die Spielquittung einschließlich der aktuellen Lottozeitung in Empfang. Die großen Poster mit traumhaften Reisezielen, die geschickt auf der Wand hinter der Kasse angebracht waren, dazu bestimmt, Sehnsüchte und Träume zu wecken, fingen auch ihn ein und verstärkten seine Hoffnung, dass endlich einmal ihn die Glücksfee mit ihrer Gunst segnen möge. „Warum immer die anderen, warum nicht auch ich?“ dachte er bei sich. Jeder hatte das Recht auf Glück, auf die Freiheit, entscheiden zu können, was man heute oder morgen machen wollte. Einmal den großen Treffer zu landen war kein Traum, kein Märchen, sondern eine reale, durch Zahlen belegbare Möglichkeit. Schon oft hatte er drei Richtige gehabt und vor einigen Jahren sogar einmal fünf, aber da genau bei die­sem Mal sehr viele die gleiche Anzahl Richtige gehabt hatten, war die Quote sehr bescheiden ausgefallen. Wenn er sich recht erinnerte, waren es um die tausendzweihundert Mark gewe­sen.

Sie verließen die hell erleuchtete Lottoannahmestelle mit dem üblichen „Tschüs, bis nächste Woche“ und standen wieder auf dem nassen Bürgersteig. Es war inzwischen ganz dunkel ge­worden.
„Sollen wir nicht noch schnell ein Bierchen trinken gehen?“ fragte Wolfgang.
„Nein, heute besser nicht“, antwortete Bruno und schaute dabei auf die Uhr, „das lohnt nicht mehr. In einer Viertelstunde geht mein Bus, und außerdem bin ich wirklich ein bisschen müde. Ein andermal wieder, okay?“
„Schade!“ war Wolfgangs etwas enttäuschte Antwort. „Na, dann. Bis Montag denn! Ach, und grüß' Margrit schön!“ Damit überquerte er die Straße, um den Heimweg einzuschlagen. „Der hat's gut“, murmelte Bruno vor sich hin, „der ist in fünf Minuten zu Hause, aber ich, ich muss noch eine halbe Stunde mit dem Bus fahren.“
Es waren zwar nur neunzehn Kilometer von Niederdollendorf bis Wahlfeld, aber da ein Bus letztendlich immer wieder halten muss, ist diese Strecke einfach nicht schneller zu machen. Außerdem war es gleich halb fünf, und der nächste fuhr erst um sechs. Bei dem einen Bierchen wäre es also nicht geblieben, und heute hatte Bruno wirklich keine Lust, dort an der Theke herumzustehen, immer die gleichen Gespräche zu führen oder sich vielleicht sogar noch einmal die gleichen Urlaubsgeschichten anhören zu müssen. Darüber hinaus war es bei diesem Wetter zu Hause viel gemütlicher. Er würde ein bisschen fernsehen und mit größter Wahr­scheinlichkeit an seinem neuesten Modellauto weiterarbeiten, ein Hobby, dem er mit einer wahrhaften Begeisterung verfallen war.
Zum Glück war der Bus pünktlich. Er stieg ein, begrüßte den Fahrer, den er schon seit Jahren kannte und dem er nur am Anfang des Monats seine Monatskarte vorzeigen musste, mit einem freundlichen „Hallo!“ und setzte sich auf einen der wenigen noch freien Sitzplätze. Angenehm warm war es hier, so dass man von der Feuchtigkeit, die die Fensterscheiben beidseitig mit einem grauen Film überzogen hatte, gar nichts spürte. Bruno merkte, wie er sich zu entspannen begann. Er schloss die Augen, um ein bisschen vor sich hin zu dösen und sich dabei auszumalen, was er alles machen würde, wenn er sechs Richtige hätte. Es tat ihm gut, träumen zu dürfen, während der Bus Niederdollendorf Richtung Thomasberg verließ.
Niederdollendorf liegt an der Stelle, an der der Rhein einstmals seine letzte Anstrengung unter­nommen hatte, die sich ihm in den Weg legenden Berghindernisse zu durchbrechen, um von hier aus frei seinen Lauf durch die Kölner Bucht bis hin in die Nordsee zu suchen. Eigentlich war der Ort nur ein Stadtteil von Königswinter, jenes für Touristen so attraktiven Städtchens auf dem schmalen Uferstreifen zu Füßen des Siebengebirges, das zum Naturschutzgebiet des Staatsforstes Siegburg gehört. Jahr für Jahr genießen hier Hunderttausende den Ausblick von dem nur 321 Meter hohen meistbestiegenen Berg der Welt, dem Drachenfels.
Es war also nicht Niederdollendorf selbst, das ihm den Anstrich des Besonderen gab, sondern unzweifelhaft seine Lage, was auch für viele andere Orte am Rhein gilt, die durch dessen Wichtigkeit als Wasserstraße ständig vom Lauf der Geschichte, dem Spiegel menschlicher Größe und menschlichen Wahns, berührt wurden. Hier hatte man einen fränkischen Friedhof ausgegraben und dabei als außerordentlich wertvollen Fund einen Grabstein aus dem 7. Jahr­hundert entdeckt.

Bruno Heller war hier, begleitet vom unaufhörli­chen Traum des Rheins von der Ferne, in Niederdollendorf geboren und aufgewachsen. In der vierten Klasse war Wolfgang Osterrath hinzugekommen, dessen Vater bei der Eisenbahn ar­beitete und nach Niederdollendorf versetzt worden war. Bruno hatte sich sehr schnell mit ihm angefreundet, fast jeden Tag trafen sie sich zum Spielen und durchstreiften die nähere und wei­tere Umgebung. Wie oft waren sie auf den Drachenfels gestiegen, ihr Rekord stand auf zwölf Minuten, waren in die Rollen der Ritter und Barbaren geschlüpft, die einst hier durchgezogen waren, hatten heimlich die Burgruine zu ihrer Festung erklärt und von oben die feindlichen Schiffe überwacht, die es wagten, durch ihr Hoheitsgebiet zu fahren.
Am meisten freuten sie sich in der Schule auf die Heimatkundestunden, in denen ihre Lehrerin sie mit immer neuen Geschichten bekannt machte. Allein die Namen Drachenfels, Petersberg, mit seinem majestätisch auf der Bergkuppe liegenden Hotel, Wolkenburg oder Großer Ölberg waren Grund genug, mit der Fantasie durch die Jahrhunderte zu reisen und die tollsten Aben­teuer zu bestehen. So versuchten sie, auf ihren Streifzügen Spuren der Riesen zu entdecken, durch die das Siebengebirge nach einer alten Sage entstanden war, oder sie schlichen sich durch den Wald an das Kloster Heisterbach heran, jederzeit damit rechnend, plötzlich dem ur­alten, langbärtigen Mönch zu begegnen, dem tausend Jahre zu einem Tag wurden.
Die Erlebnisse und Geschichten waren so sehr Teil von Bruno geworden, dass er selbst heute als Erwachsener jedes Mal diese Mischung aus Beklemmung, gespannter Erwartung und Neugier fühlte, wenn er im Bus oder im Auto auf dem Weg zwischen Niederdollendorf und Wahlfeld auf der sich durch den Forst am Berghang entlang schlängelnden Straße an der Ruine des Klosters vorüberfuhr.

Im Laufe der achten Klasse musste Bruno allmählich darüber nachdenken, welchen Beruf er erlernen sollte. Er war, das war ihm selbst, aber auch seinen Eltern und seinen Lehrern schon lange klar geworden, kein „theoretischer“ Typ. So nannte sein Vater alle Schüler, die aus der Grundschule ins Gymnasium oder in die Realschule übergewechselt waren. Bruno war außerordentlich praktisch veranlagt. Vor allem hatte er ganz besonderen Spaß an solchen Dingen, die möglichst knifflig waren und viel Geduld erforderten. Deshalb begann er nach seinem Schulabschluss am Ende der neunten Klasse eine Lehre als Feinmechaniker in einem kleinen Betrieb in Beuel, das nur etwas weiter nördlich lag. Wolfgang hatte sich auch für diesen Beruf entschieden. Da er aber eine Lehrstelle in Oberkassel bekommen hatte, trennten sich in diesen dreieinhalb Jahren ihre Wege etwas, obwohl sie sich nach wie vor trafen, jetzt jedoch in größeren Abständen.
Dies hatte natürlich nicht nur etwas mit der Berufsausbildung zu tun, sondern mit fortschrei­tendem Alter drängen sich mit unaufhaltbarer Vehemenz die enge Jeans, Nylonstrümpfe, Röcke, Kleider tragenden, sanft, lockend, kokett blickenden, braun-, blond-, schwarz-, rot­haarigen, dezent, auffällig geschminkten, mit herrlichen Rundungen versehenen, wohlrie­chenden, warmen, weichen weiblichen Wesen in das Leben der meisten männlichen Jugendlichen, Freunde, Eltern, Familie vergessen lassend. Es ist die Zeit, in der man nicht mehr um elf nach Hause kommt, in der man alles besser weiß, in der man immer öfter zu zweit sein will, in der man endlich eine eigene Wohnung braucht.
Bruno war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Auch er war dem weiblichen Geschlecht zugetan, ohne das das Leben wahrscheinlich erheblich einfacher wäre, auf das jedoch der Großteil der Männer naturgemäß nicht verzich­ten kann. So widmete sich Bruno in seiner Freizeit dem Eroberungsspiel, in dem er, ohne dass ihn irgendjemand über die Spielregeln aufgeklärt hätte, einige Erfolge zu verzeichnen hatte. Schließlich sah er auch gar nicht schlecht aus, er war ziemlich groß, schlank und kräftig, eine Strähne seines vollen, aschblonden Haares fiel ihm stets in sein ebenmäßiges, gut proportioniertes Gesicht, dessen graublaue Augen in einen aufrichtigen und selbstsicheren Charakter sehen ließen.

Margrit, die aus Thomasberg, einem größeren Ort auf der Rückseite des Siebengebirges stammte und in demselben Betrieb eine Lehre als Kaufmännische Angestellte absolvierte, hatte sofort beide Augen auf Bruno geworfen. Ab und zu wurde Bruno sich bewusst, dass sie ihn in einer so ungewollt deutlichen Absicht ansah, aber es amüsierte ihn eher, als dass er dahinter ir­gendetwas Ernsthaftes vermutet hätte. Er fand sie zwar ganz nett, jedoch befand er sich noch in dem Stadium, in dem man das Besondere will, die Person, die Tausenden das Herz höher schlagen 1ässt, die der Auto-­ oder Seifenreklame am nächsten kommt, die ganz Zärtlichkeit, Süße, Traum ist, bis man schließlich merkt, dass ein engelgleiches Gesicht, eine berückende Figur eben nur ein Gesicht oder eine Figur sind, die als natürliches Startkapital auf dem Akti­enmarkt der menschlichen Beziehungen der Erzielung höchstmöglicher Profite dienstbar ge­macht werden.
Weil Margrit über diesen Sonderbonus der Natur nicht verfügte, obwohl man sie beim besten Willen nicht als hässlich bezeichnen konnte, musste sie zu allen anderen Mitteln der weiblichen Fantasie greifen, um auf irgendeine Art die Aufmerksamkeit Brunos, und hoffentlich später mehr als das, zu erregen. Ihre Gedanken wanderten oft, viel zu oft, zu ihm in die Lehrwerk­statt, wo er nichts ahnend noch sicher war. Natürlich machte sie dabei häufiger Fehler in ihrer Arbeit, was wiederum ihrem Vorgesetzten und Ausbilder missfiel. Wie konnte der auch Verständnis für ihre Situation aufbringen, die sie einfach nicht konzentriert genug arbeiten ließ? Für ihn waren diese Fehler mit Dummheit gleichzusetzen, denn obwohl er anfänglich einen sehr guten Eindruck von ihr gewonnen hatte, war er jetzt zu der Überzeugung gelangt, dass die Grenze ihrer Möglichkeiten erreicht sei. In Wirklichkeit war sie aber außerordentlich intelligent. Seine Einstellung wirft nur ein Licht auf die Tatsache, wie leichtfertig Men­schen so häufig miteinander umgehen und mit dieser Blindheit den Boden für die schrecklich­sten Missverständnisse und Ungerechtigkeiten vorbereiten.
Margrit spürte wohl, dass sich in der Beziehung zu ihrem Ausbilder eine gewisse Änderung er­geben hatte, da sie aber als Ausgleich „ihren Bruno“ hatte, stufte sie jenen einfach in die Kate­gorie „alter Knacker“ ein, womit die Entfremdung endgültig besiegelt war.
Bei ihren bisweilen notwendigen Gängen in andere Abteilungen des Betriebes ging sie nun nicht mehr außen an der Lehrwerkstatt vorbei, sondern mitten durch sie hindurch, ohne sich über die Unsitte aufzuregen, dass ihr manchmal nachgepfiffen oder eine Bemerkung zugerufen wurde. In der Kantine wusste sie es so einzurichten, dass sie so nahe wie möglich bei Bruno sitzen konnte, damit sie ihn, aber er auch sie, sehen konnte. Sie besuchte einen Kurs über richtiges Schminken, um die Kunst des Einflusses auf natürliche Gegebenheiten zu erlernen, und legte viel mehr Wert als früher auf eine adrette Frisur und eine farblich geschmackvolle Zusammenstellung ihrer Klei­dung. Bei ihren Kolleginnen brachte sie geschickt immer wieder das Gespräch auf Bruno und schwärmte von ihm, nicht etwa, damit eine von ihnen ihm irgendwann einmal einen Tipp geben sollte, sondern sie steckte damit instinktiv gleichermaßen ihren Claim ab, in dem niemand an­deres außer ihr selbst den Schatz heben durfte. Ohne dass Bruno etwas davon wusste, hatte sie bereits ihr Recht auf ihn geltend gemacht.

Ihre große Gelegenheit kam beim nächsten Betriebsausflug, der unabdingbar zum Ablauf eines Jahres gehörte und der diesmal zum Weinfest nach Rüdesheim, einem weltberühmten Wein­wallfahrtsort, gehen sollte. Natürlich stieg sie in den Bus, in den sich Bruno begeben hatte. Er saß in der siebten Reihe am Fenster und schaute nach draußen. Der Gangplatz neben ihm, wel­che Fügung des Himmels, war frei. „Jetzt oder nie!“ ,dachte sie bei sich, nahm allen Mut zu­sammen, blieb neben ihm stehen und fragte mit einem Lächeln, das ihre wirklich schönen, ebenmäßigen, weißen Zähne sehen ließ: „Ist dieser Platz noch frei?“ Bruno wandte den Kopf und wollte eigentlich spontan „Nein!“ sagen, aber aus einem nicht erfindlichen Grund kam ihm ein „Ja“ über die Lippen.
Ob es die beiden Grübchen waren, die sich rechts und links des lächelnden Mundes gebildet hatten und die ihm sofort gefielen, oder ob es der Gedanke war, dass es unter­haltsamer ist, neben einem Mädchen als neben einem Arbeitskollegen, dessen Gesprächsthe­men und Witze man ohnehin schon kennt, zu sitzen, ist heute nicht mehr feststellbar. Margrit saß jedenfalls neben ihm, und Bruno musste sich im Inneren eingestehen, dass er davon gar nicht unangenehm berührt war. Während der Busfahrt entspann sich zwischen ihnen ein angeregtes Gespräch, in dessen Verlauf Bruno sie immer wieder zum Lachen brachte, damit er die beiden Grübchen, die ihrem Gesicht einen besonderen Reiz gaben, sehen konnte. Den ganzen Tag über blieb Margrit wie selbstverständlich an seiner Seite. In der Drosselgasse ertappte sich Bruno sogar einmal dabei, wie er sich plötzlich nach ihr umschaute, um sich zu vergewissern, dass sie noch in der Nähe war, weil sie ihm ein nicht erklärbares Gefühl des Wohlbefindens ver­mittelte. Sie war witzig, schlagfertig, lachte gern und schien außerdem auch ziemlich klug zu sein.
Es wurde ein wunderschöner Tag, obwohl anscheinend viele andere Betriebe auf die gleiche Idee gekommen waren und unübersehbare Menschenmassen Rüdesheim überschwemmt und alle Lokale bis auf den letzten Platz gefüllt hatten. Für Margrit war es unwichtig, wie viele Menschen um sie herum waren. Sie genoss das herrliche Gefühl des Verliebtseins, das sie von dieser Menschenmenge loslöste und auf eine Insel entrückte, auf der sich nur sie und ihr mit den Händen greifbarer Traum befanden.
„Ich glaube, es ist Zeit, zum Bus zurückzugehen“, sagte Bruno plötzlich zu ihr. „Was? Ist es schon so spät?“ fragte sie ungläubig, weil sie noch nicht erfassen konnte, dass sich bis ins Un­endliche ausdehnende Zeitlosigkeit so schnell zu Ende sein kann.
Im Bus setzten sie sich auf ihre alten Plätze. Es wurde jetzt ein bisschen lauter, weil die meisten der Kolleginnen und Kollegen außerordentlich aktiv am Weinfest teilgenommen hatten und ihrer Freude darüber mit plumpwitzigen Äußerungen und fröhlichen Grölgesängen lauthals Ausdruck verliehen. Als jedoch der Bus wieder losgefahren war, verstummten bald die gegenseiti­gen Zurufe und Trinklieder, weil die meisten vom Feiern doch sehr erschöpft waren und lieber etwas schlafen wollten.
Margrit hatte auch die Augen geschlossen, so dass es den Eindruck erweckte, als ob sie einge­schlafen sei. Wie unabsichtlich neigte sich ihr Kopf zu Bruno hinüber und machte an seiner Schulter halt. Weil diese keine Anstalten machte, der Berührung auszuweichen, ließ ihre inne­re Spannung, die sie bisher noch davon abgehalten hatte, sich fest anzuschmiegen, nach, und mit einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit machte sie es sich, einen wohligen Seufzer aussto­ßend, jetzt ganz bequem. Bruno musterte sie von der Seite. Seine Augen wanderten über ihre langen Wimpern, ihre zierliche Nase und verweilten eine Zeitlang auf ihrem ganz leicht geöffneten Mund. Dabei atmete er den Duft ihres seidig glänzenden dunkelbraunen Haares, das zu einer kecken Kurzfrisur geschnitten war.
Es gibt wahrscheinlich kaum einen Mann auf dieser Welt, der in einer solchen Situation kühl und unnahbar bleiben kann, vor allen Dingen, wenn bereits eine unterschwellige, instinktive Zuneigung in seinem Inneren Platz zu greifen beginnt. Bruno ging es nicht anders. Er hob seinen Arm,­ sie schreckte für einen kurzen Moment hoch, setzte sich schräg zu ihr in seinen Sitz und legte den Arm um sie, so dass ihr Kopf nun auf seiner Brust ruhte. Das Pochen seines Herzens übertrug sich in ihren ganzen Körper, in ihr Gesicht drängte sich der Ausdruck des reinen, absoluten Glücks, das zu durchkosten nur wenigen Augenblicken des Lebens vorbehalten bleibt. Margrit war am Ziel.
Ehe sie sich's versa­hen, war das erste Jahr des Zusammenseins herum, und ihre Prüfungen standen vor der Tür. Beide bestanden sie mit sehr gutem Erfolg, vielleicht auch deshalb, weil keiner dem anderen mit einem schlechten Ergebnis wehtun wollte.

Es war nun an der Zeit, dass sich beide nach einer festen Anstellung umschauten. Für Bruno er­gaben sich eigentlich keine Schwierigkeiten, da gute Feinmechaniker überall gesucht wurden, während Kaufmännische Angestellte sich einer stärkeren Konkurrenz gegenübersahen. Wenn es jedoch irgendmöglich wäre, wollten beide im selben Betrieb arbeiten, weil sie einen Vorteil darin sahen, gemeinsam zur Arbeit und auch gemeinsam wieder zurück nach Hause zu fahren­. Welch glücklicher Zufall ergab sich, als Margrit von der Firma WIMA GmbH & Co. in Nie­derdollendorf die Zusage für eine Halbtagsstelle erhielt und Bruno dort in Vollzeit als Geselle beginnen konnte. Das Unter­nehmen stellte labortechnische Geräte von hoher Präzision her und lieferte seine Produkte, die größtenteils für ganz spezifische Zwecke bestellt und oft auch eigens entworfen werden mussten, in alle Welt. Es schien sich zur Zeit einer guten Auftragslage gegenüberzusehen, da es mehrere Feinmechaniker suchte, und das war die Gelegenheit für Wolfgang Osterrath, auch wieder nach Niederdollendorf zurückzukehren. Natürlich freute sich Bruno, dass sein alter Freund wieder in der Nähe, ja sogar in der gleichen Firma war, denn er war zu der Überzeugung gekommen, dass es doch gelegentlich schön ist, unter Männern zu sein, um die Gesprächsthemen zu wechseln und seinen Horizont unter männlichen Gesichtspunkten zu er­weitern.
„Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass du mit Wolfgang mal irgendwohin gehst“, hatte Mar­grit schon des Öfteren zu ihm gesagt und immer hinzugefügt: „Es wird ja ohnehin nicht spät, nicht wahr?“ Dabei hatte sie sich an ihn geschmiegt, ihm ein Küsschen auf die Wange gegeben und ihm ins Ohr gehaucht: „Ich warte auf dich!“
Welcher Mann wäre bei so viel Liebe dem moralischen Druck ausgewichen und lange von zu Hause fort geblieben? Aus diesem Grund wurde Bruno spätestens beim dritten Bier un­ruhig und verabschiedete sich meist schnell von seinem Freund, dem diese Eile jedoch unverständlich war. „Hast du denn Angst, dass dir jemand deine Margrit stiehlt, wenn du nicht zu Hause bist?“, fragte er einmal, halb im Spaß, halb im Ernst. „Ach, was du redest!“, antworte­te ihm Bruno etwas unwirsch und lachte dabei, obwohl ihm die Bemerkung seines Freundes einen deutlichen Stich in sein Selbstbewusstsein versetzt hatte, was er jedoch unter keinen Umständen erkennen lassen durfte. Aber der Stachel saß. Woran lag es, dass er einfach nicht vermeiden konnte, ein schlechtes Gewissen, vielleicht sogar ein Schuldgefühl zu spüren, wenn er mit seinem Freund oder manchmal auch mit seinen Arbeitskollegen wegging und im Grunde etwas länger bleiben wollte? Was brachte ihn dazu, diesen Drang zu empfinden, möglichst bald wieder nach Hause zu gehen? Er war doch glücklich mit Margrit. Sie hatten sich in Nie­derdollendorf eine gemeinsame Wohnung genommen und sie sehr gemütlich eingerichtet, ver­dienten beide gut, konnten jedes Jahr zusammen in Urlaub fahren... - eigentlich fehlte nichts!
"Das ist es", gab er sich selbst zur Antwort, "ich möchte, dass Margrit glücklich ist. Es wäre also sehr egoistisch von mir, wenn ich sie so lange alleine ließe, wo sie sich doch so sehr freut, wenn ich bei ihr bin." Und wenn er dann wieder zu Hause ankam, begrüßte ihn Margrit mit einem frohen „Schön, dass du wieder da bist!" und erzählte ihm dann wie jeden Tag detailliert von ihrer Tätigkeit im Büro und von ihren häuslichen Aktivitäten. Bruno war sich nie ganz klar, warum sie das tat. Wollte sie ihm damit zeigen, wie perfekt sie ihr Leben managte oder dass er froh sein konnte, eine so tolle Frau gefunden zu haben?  Gegen Abend schauten sie gemeinsam noch ein bisschen fern, obwohl Bruno des Öfteren viel lieber an einem Modellauto weitergearbeitet hätte. Bruno überließ ihr in der Regel die Wahl, was sie sehen wollten, und gingen dann zu Bett, nicht, ohne dass Margrit schon den Frühstückstisch gerichtet hatte, um am nächsten Morgen ihr gemeinsames Frühstück mit fri­schen Brötchen, die schon um sechs Uhr angeliefert wurden, einnehmen zu können.
Wolfgangs häusliche Situation war deutlich verschieden. Er hatte, etwa zur gleichen Zeit wie Margrit ihren Bruno, bei einer Karnevalsveranstaltung in Oberkassel ein Mädchen kennenge­lernt, das ihm auf Anhieb gefallen hatte. Gerda war, wie man im Rheinland eine solche Person zu nennen pflegt, eine echte rheinische Frohnatur, stets guter Dinge, witzig, schlagfertig, immer in Bewegung, „in action", wie sie es nannte, dabei etwas burschikos, und sie war der Überzeugung, dass man dem Leben die positiven Seiten selbst geben sollte. Sie war aktives Mitglied im Oberkasseler Karnevalsverein, der sie das ganze Jahr über in ihrer Freizeit stark beschäftigte. Obwohl Wolfgang ihr auch sehr gut gefiel, sie zusammen ausgingen und in Ur­laub fuhren und nach seiner Gesellenprüfung auch eine kleine gemeinsame Wohnung in Nie­derdollendorf bezogen hatten, hatte sie doch von vornherein keinen Zweifel daran gelassen, dass ihre Vereinstätigkeit untrennbar zu ihrem Leben gehörte und sie diese deshalb unter keinen Umständen aufgeben würde. Sie hatte Wolfgang auch freigestellt, ebenfalls in den Verein ein­zutreten, aber ihm genügte es, nur an den Veranstaltungen teilzunehmen. Weil Gerda also viel unterwegs war, hatte Wolfgang selber auch Zeit, seinen Hobbys nachzugehen oder ganz ein­fach ab und zu in seiner Stammkneipe in aller Ruhe sein Bier zu trinken. Er empfand diese Le­bensbedingungen als außerordentlich angenehm, weil sie genau seinen Vorstellungen entsprachen, und es fiel ihm schwer, Brunos neuen Lebensstil zu verstehen. Aber ihre Freund­schaft würde natürlich nicht darunter leiden, dessen war er sich ganz sicher .
Als Margrit und Bruno eines Abends wieder vor dem Fernseher saßen, kuschelte sie sich plötzlich noch enger an ihn und meinte: „Du, Bruno, was hältst du eigentlich davon, wenn wir jetzt langsam heiraten würden? Wäre das nicht schön?" „Heiraten?" tönte es etwas dümmlich aus Bruno. „Ja natürlich", antwortete sie, „wir sind doch sowieso zusammen, und ich möchte immer bei dir bleiben. Und dann können wir doch auch heiraten. Außerdem ..." „Was außerdem?" sprang Bruno auf dieses Wort an, das in der Regel immer dann gesagt wird, wenn sich irgendeine überraschende Wendung im Gespräch anbahnt. „Außerdem...", wiederholte Margrit leise zögernd, aber mit einer liebevollen Sanftheit in der Stimme, „außerdem glaube ich", sie stockte wieder für den Bruchteil einer Sekunde,  „ich glaube, dass wir ein Baby bekom­men werden!"
Im ersten Moment war Bruno zu keiner Reaktion fähig. Er wurde überrollt von ungläubigem Erstaunen, unbändiger Freude, tiefer Besorgnis, emporsprudelnden Zweifeln über die damit verbundenen neuen Zukunftsperspektiven, beklemmender Angst vor der Vaterrolle und einer umfassenden Unsicherheit, wie er sich verhalten solle. Obwohl er also völlig normal reagierte, als Mann eben, deutete Margrit dies vollständig falsch und meinte in einem enttäuscht schmol­lenden, gleichzeitig um Zuneigung bittenden Ton: „Du freust dich ja gar nicht." „Aber natürlich!" beeilte er sich, ihr zu versichern, „es ist nur.., das kommt so überraschend..., ich muss mich erst einmal an diese Nachricht gewöhnen!" Dabei nahm er sie in den Arm und drückte sie ein wenig, schwächer als sonst, um ihr wohl nicht weh zu tun, aber sie misstraute seiner Beteuerung und legte damit den Grundstein zu jenem Komplex, den unzählige andere Frauen teilen, gerade weil sie ein Kind erwarten, an der Liebe ihres Mannes zu zweifeln und später tausendfach bei Eltern, Verwandten, Freunden, Bekannten, Nachbarn usw. zu kom­mentieren, dass er sich zuerst noch nicht einmal bei dieser für sie so erfüllenden Nachricht ge­freut habe.
Nachdem sie noch eine ganze Weile über die neue Wendung ihres Lebens gesprochen hatten, kamen sie überein, am nächsten Tag in aller Ruhe und Punkt für Punkt alle Einzelheiten durch­zugehen und gingen dann zu Bett. Bruno konnte jedoch nicht einschlafen. Während er die tie­fen und gleichmäßigen Atemzüge Margrits unbewusst wahrnahm, kreisten seine Gedanken unablässig um die neue Situation. Er war froh und doch nicht froh, stolz und doch nicht stolz, aber er konnte sich nicht erklären, warum er so widerstrebende Empfindungen spürte. Für ihn kam das alles viel zu schnell. Gerade vierundzwanzig Jahre war er alt, Heiraten, Vaterschaft, all das hatte er sich ein bisschen anders vorgestellt. Er hätte noch ein bisschen von der Welt sehen, seine Jugend noch ein wenig genießen wollen, aber jetzt...? Richtig, das war es, er war überrumpelt worden. Aber konnte er jetzt zurück? Nein, bestimmt nicht. Schließlich hatte er doch auch seinen Teil zu der ganzen Sache beigetragen. Man kann sich dann nicht einfach aus der Affäre ziehen. Letztendlich mochte er Margrit, daran bestand kein Zweifel. Sie war fast perfekt, vielleicht sogar perfekt. Bisher hatte sie ihm noch nicht ein einziges Mal Gelegenheit gegeben, irgendetwas kritisieren zu können. Also musste er nur umdenken, einfach die Sache anders betrachten und die Zukunft von einer neuen Ausgangslage angehen. Irgendwie würde er das schon hinkriegen. „Ja, so machen wir das", sagte er leise zu sich selbst, und froh darüber, eine für ihn akzeptable Lösung gefunden zu haben, drehte er sich zur Seite und schlief beruhigt dem neuen Tag entgegen.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Fluge, so viel war zu überlegen und zu regeln. Sie hei­rateten in kleinstem Kreise, Wolfgang und Gerda waren die Trauzeugen und würden wohl auch die Paten für das Kind werden. Margrit bummelte mit Bruno jetzt sehr gern durch die Innen­stadt von Bad Godesberg und blieb natürlich immer am längsten vor den Geschäften mit Kin­dersachen stehen. In Gedanken hatte sie bereits die süßeste Babykleidung eingekauft und schon längst das Kinderzimmer eingerichtet. Aber in ihrer jetzigen Wohnung hatten sie gar keins. Für den Anfang würde es wohl auch so gehen, aber dann? Bruno machte sich im Moment keine großen Gedanken um dieses Thema, weil er sich ja zu dem „Irgendwie wird das schon gehen"-­Standpunkt entschlossen hatte, aber Margrit dachte ununterbrochen über eine auf Zukunft ori­entierte Lösung nach.
Als sie eines Tages bei einem ihrer Stadtbummel in einem Café eine kleine Pause machten, glaubte sie den Moment für gekommen, um Bruno einen Vorschlag zu machen, der in ihr schon Gestalt angenommen hatte­
„Ach, war das eine Kinderbett, das wir eben gesehen haben, nicht ganz süß?", fragte sie strah­lend.  „Kinderbett?", fragte Bruno zurück. „Ja, das weiße mit den gedrechselten Stäben und dem Spitzenbaldachin", erklärte sie mit einem verzückten Lächeln. „Ach so", antwortete Bruno, „ja, das hat mir auch gefallen." „Und die Wickelkommode dazu, im gleichen Stil und so praktisch. Da kann man alles unterbringen, was man täglich für die Babypflege braucht", fügte sie hinzu. „Ja, war auch schön“,  bemerkte Bruno und schob sich ein Stück Herrentorte in den Mund. „Ich stelle mir das so schön vor", fuhr Margrit fort, „vor den Fenstern hübsche Gardi­nen mit lustigen Kindermotiven, in einer Ecke das Bettchen, gleich daneben die Wickelkom­mode, auf der anderen Seite ein kleiner Schrank für seine Sachen - sie sprach übrigens immer nur von "ihm" - und in der Mitte ein bunter Teppich, auf dem er schön spielen kann." „Aber sag mal, wo willst du denn das alles hinstellen?", wandte Bruno ein, „unsere Wohnung ist doch viel zu klein, das geht doch gar nicht!" „Das ist es ja eben“, erwiderte Margrit mit dem unschul­digsten Augenaufschlag, der ihr möglich war, „ich habe schon hin und her überlegt, wie wir das machen können. Eigentlich müssten wir ja umziehen, aber das ist auf Dauer auch keine Lösung." „Wieso?", fragte Bruno nun doch erstaunt, weil er jetzt überhaupt nicht mehr wusste, auf was Margrit eigentlich hinauswollte. „Überleg doch mal", sagte sie nun sehr eifrig, „wenn wir eine neue Wohnung nehmen, muss sie schon so groß sein, dass wir nicht wieder umziehen müssen, wenn unsere Familie noch größer wird." Sie blickte ihn dabei schelmisch an, sprach aber gleich weiter: „Bei den heutigen Mietpreisen dürfte so eine Wohnung nicht gerade billig sein, gerade hier in Niederdollendorf nicht, wo sowieso nur ein begrenztes Angebot vorhanden ist. Deshalb habe ich mir gedacht, ob es nicht vorteilhafter wäre, ernsthaft daran zu denken, selber zu bauen!" Da, nun war es heraus und sie schaute gespannt auf Bruno, wie der auf diesen Vorschlag reagieren würde. „Bauen, wir?", fragte er völlig verdattert, und mehr brachte er nicht heraus. Sie sprang sofort in die Bresche: „Ja klar, warum nicht? Pass auf! Meine Eltern haben doch einen zuteilungsreifen Bausparvertrag, und mein Vater hat mir schon mehrfach angeboten, ihn mir zu überschreiben, weil sie ihn bestimmt nicht nutzen werden. Ich habe auch einen, der bald zur Zuteilung kommt. Mit dem Geld können wir uns zuerst einmal ein Grundstück kaufen. Damit wir es schneller abzahlen können, würde ich halbtags weiterarbeiten. Du könntest während der nächsten drei Jahre auf die Meisterschule gehen, hättest dann auch eine bessere Stellung, wir würden bauen und so lange könnten wir es dann noch in der alten Wohnung aushalten, weil wir schließlich ein besseres Ziel vor Augen haben." Sie erklärte und redete, alle seine Einwürfe pa­rierte sie geschickt mit wohlüberlegten Argumenten, bis Bruno schließlich nur noch sagte: „Moment, das müssen wir wirklich noch einmal genauer besprechen. Ich brauche jetzt nur etwas frische Luft." Während er die Rechnung bezahlte, setzte sich ein Gedanke in seinem Kopf fest. Wie stellte es Margrit nur an, dass man ihr so schlecht widersprechen konnte. Ihre Überlegungen waren überzeugend, stimmig, plausibel, vielleicht zu plausibel. Er konnte nirgendwo eine Lücke entdecken, wo er hätte einhaken können. Die ganze Angelegenheit ver­ursachte ihm ein Gefühl des Unwohlseins, doch das war kein Argument, zumindest für Margrit nicht. Also erst einmal Zeit gewinnen.
Margrit schwieg nun, beobachtete Bruno aber in einer Weise, als ob sie seine Gedanken lesen könnte. Sie war sich ganz sicher, dass es nur noch einer verhältnismäßig geringfügigen Nacharbeit bedurfte, bis er auf ihre Linie eingeschwenkt war, denn er hatte nicht "Nein! " ge­sagt.
Und so kam es auch. Mit einer bewunderungswürdig erschreckenden Sicherheit regelte Margrit alles. Sie ging mit Bruno zum Chef der Firma, um die Möglichkeiten der Beteiligung des Unternehmens an den Kosten der Meisterschule zu erkun­den, wobei sie ein beachtenswertes Ergebnis erzielte, machte Termine mit Immobilienmaklern und studierte in sämtlichen erreichbaren Zeitungen den Immobilienteil. Schon nach kurzer Zeit wurde ihnen klar, dass ihr Bauprojekt in Niederdollendorf nicht verwirklicht werden konn­te, zu teuer waren in dieser Gegend aufgrund der bevorzugten Lage die Preise der noch verfügbaren Grundstücke. Bruno hätte beinahe schon aufgeatmet, aber einen solchen Rückschlag konnte Margrit nicht einfach zulassen. Wenn es hier eben nicht ginge, dann müsse man in der Umgebung anfangen zu suchen, man dürfe die Hoffnung auf keinen Fall aufgeben­. Schließlich hätten sie beide doch dasselbe Ziel, das ihnen eine glückliche Zukunft sichere.

Bruno schreckte plötzlich hoch, weil er instinktiv gespürt hatte, dass er gleich aussteigen müsse. Tatsächlich war der Bus nur noch wenige hundert Meter von der Haltestelle Wahlfeld entfernt. Bruno wünschte dem Fahrer ein schönes Wochenende, stieg aus und ging die wenigen Meter in den Bachweg zu seinem Haus, das sie nach der Beendigung seiner Meisterschule auf dem vorher gekauften Grundstück hatten bauen lassen. Margrit hatte damals ganz präzise Vorstellungen darüber gehabt, wie das Haus aussehen und         ausgestattet sein sollte, was leider zu einer unerwünschten Kostenexplosion geführt hatte. Bruno stellte nur immer wieder fest, dass es viel zu groß für drei Personen geraten war. Der mit großer Freude und Spannung erwartete Sohn – Margrit hatte ihn bereits in Gedanken auf den Namen Ralf taufen lassen – hatte sich als Mädchen entpuppt, für das die etwas enttäuschte Margrit schließlich „Sofia“ gefunden hatte. Bruno hätte lieber „Hanna“ gehabt, weil Hanna Heller für ihn musikalischer klang, aber wie immer hatte er Margrit gegenüber einen Rückzieher gemacht. Ein weiterer Kindersegen war trotz aller Bemühungen ausgeblieben, und so waren die vorhandenen Kinderzimmer möblierte Leerzimmer geworden.
Bruno warf sich ständig selber vor, nicht genügend Rückgrat gehabt zu haben, um Margrit in ihren Plänen und Vorhaben etwas zu bremsen, denn die Konsequenzen musste er nun überwiegend tragen. Margrit arbeitete weiterhin nur halbtags, er verdiente als Meister nicht schlecht, aber die Belastungen, die auf dem Haus lagen, machten ihm doch sehr zu schaffen, so dass Urlaubsreisen, wie Wolfgang Osterrath sie buchen konnte, nicht im Bereich des Möglichen lagen. Sein Auto war inzwischen schon sehr alt und hatte mehr als 200.000 Kilometer auf dem Buckel. Ein neues konnte er sich jedoch in der aktuellen Situation nicht leisten. Um es zu schonen, ließ er es meistens in der Garage und fuhr lieber mit dem Bus zur Arbeit, obwohl er mit dem Auto viel Zeit eingespart hätte.
War das also die glückliche Zukunft, die Margrit vor Jahren beschworen hatte? Die Antwort lag ganz deutlich auf der Hand, und das war der Beweggrund des wöchentlichen Gangs in die Lottoannahme-stelle mit dem eigentlich irrealen Wunsch auf einen großen Gewinn.
Als Bruno vor seinem Haus ankam, wunderte er sich darüber, dass es völlig im Dunkeln lag. In der Diele fand er einen Zettel von Margrit: „Bin in Königswinter bei Renate zum Kartenspielen. Sofia ist bei ihrer Freundin und schläft auch dort. Kannst du mich um neun abholen?“
Das war es also mit dem gemütlichen Freitagabend. In dreieinhalb Stunden müsste er jetzt hinunter nach Königswinter fahren und seine Frau abholen. Noch nicht einmal ein Fläschchen Bier könnte er sich nun gönnen. Tief aufseufzend schaltete er den Fernseher ein, holte sich eine Flasche Wasser und schaltete ein bisschen zwischen den verschiedenen  Programmen hin und her. Wie immer gab es nichts, was ihn hätte interessieren können. Aber auch wenn, er war nicht in der Lage sich auf irgendein Programm zu konzentrieren. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken um seine Situation, die er so nicht hatte voraussehen können und die er sich auch nicht gewünscht hatte. Was war mit ihm los? Wie schätzte er sein Leben mit Margrit ein? Welche Zukunftsperspektiven boten sich ihm noch?
Eines war ihm klar: er war nicht glücklich. Sein Leben hatte sich in eine Richtung entwickelt, die ihm keine Zufriedenheit schenkte. Aber er sah auch keine Alternative zu dem jetzigen Zustand.
In dem Hin und Her seiner Gedanken hätte er es beinahe verpasst, rechtzeitig das Auto aus der Garage zu holen und loszufahren. Er hasste es ohnehin nachts durch die Gegend zu fahren, aber darauf nahm Margrit ja keine Rücksicht.
Hinter Thomasberg und Heisterbacherrott führt die Straße kurvenreich bergab durch eine bewaldete, stockdunkle Gegend, als der Motor seines Autos in Höhe der Klosterruine Heisterbach plötzlich zu ruckeln anfing, nicht mehr auf das Gaspedal reagierte, mehrere Aussetzer hatte und nach ein paar weiteren Metern erstarb. Bruno konnte gerade noch auf den Randstreifen fahren, anhalten und das Warnlicht einschalten. „So ein Mist, ausgerechnet jetzt muss das passieren“, stöhnte Bruno laut auf, öffnete die Tür und stieg aus. Ihn umfing vollkommene Dunkelheit und tiefe Stille. Bruno überlegte völlig ratlos, was zu tun sei. In den Motor zu schauen hatte keinen Zweck. Er hatte noch nicht einmal eine Taschenlampe bei sich. Bis zum Ortseingang von Oberdollendorf waren es mindestens eineinhalb Kilometer, und dann? Also auf ein anderes Auto warten, das vielleicht anhalten würde, obwohl das auch sehr unwahrscheinlich war. Welcher Autofahrer hält in einer stockdunklen Nacht auf einer einsamen Straße schon an, wenn da einer steht und winkt. Er würde es auch nicht tun.
Langsam kroch Verzweiflung in ihm hoch. Was sollte er nur tun?
Da hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ Bruno fuhr vor Schreck zusammen, drehte sich um und erblickte einen Mann, den er trotz der Dunkelheit ziemlich gut erkennen konnte. Da dieser Mann völlig friedlich wirkte und keinerlei aggressives Verhalten an die Nacht legte, atmete Bruno tief durch und antwortete, obwohl das im Grunde völlig klar war, „Mein Auto will nicht mehr und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich muss meine Frau aus Königswinter abholen, ich kann ihr nicht Bescheid sagen, dass ich liegengeblieben bin, hier gibt es kein Telefon und … tja!“
„Sie sind ein Glückskind!“, antwortete der Mann und trat einen Schritt näher. „Wollen Sie mich veralbern?“, antwortete Bruno fassungslos. „Bei mir jagt eine Pechsträhne die nächste. Und Sie sprechen von Glück?“
„Doch, doch!“, erwiderte der Mann, „wissen Sie, vor langer Zeit war ich Mönch dort drüben im Kloster Heisterbach. Und es gibt ein Gelöbnis, dass ich alle hundert Jahre hier in Heisterbach einem Menschen Gutes tun kann. Heute ist genau der Tag, an dem sich wieder einmal hundert Jahre erfüllt haben, und da sind Sie, der mir drei Wünsche nennen darf.“
Bruno war sich jetzt sicher, dass er einer psychisch gestörten Person gegenüberstand. Solche Dinge gab es nur in Märchen oder Science-Fiction Romanen, aber doch nicht in der Wirklichkeit.
„Ich sehe, Sie glauben mir nicht“, sagte der Mann lächelnd, „na, dann passen Sie mal auf!“ Damit hob er seine Hand und zeigte auf das Auto, bei dem im selben Moment der Motor zu laufen begann und die Scheinwerfer aufleuchteten.
Ungläubig staunend schaute Bruno zwischen dem Auto und dem Mann hin und her. Konnte das wahr sein? Das konnte es doch nicht geben! Oder doch?
„Glauben Sie mir jetzt?“, fragte der Mann freundlich. Bruno war nur imstande mit dem Kopf zu nicken. „Und jetzt können Sie mir drei Wünsche sagen, die ich Ihnen erfüllen werde“, fuhr der Mann fort. In Brunos Kopf begann es fieberhaft zu arbeiten. So unwirklich das Ganze war, es war die Chance seines Lebens. Er durfte jetzt nichts falsch machen, sondern musste gut überlegen, was für ihn wichtig war. Da zuckte ein genialer Gedanke durch sein Gehirn und leicht zögernd sagte er: „Eigentlich sind mir drei Wünsche zu viel. Ich habe nur einen einzigen Wunsch. Ich möchte gerne, dass ich mir in jeder Woche meines zukünftigen Lebens etwas wünschen darf, das mir dann erfüllt wird. Und gleich morgen möchte ich damit anfangen.“
Mit so einem ungewöhnlichen Wunsch hatte der Mann wohl nicht gerechnet. Er machte plötzlich ein erstauntes, aber auch ein besorgtes Gesicht und antwortete: „Oh, da kann ich nicht sofort zusagen. Da muss ich erst einmal einen Rat einholen.“ Damit drehte er sich um und entfernte sich ein paar Schritte, so dass er für Bruno nur noch als ein Schemen zu sehen war. Anscheinend sprach er mit jemandem, drehte sich dann aber nach einigen Augenblicken wieder um, ohne dass der sorgenvolle Ausdruck aus seinem Gesicht verschwunden gewesen wäre. „Nun gut, wir werden Ihnen diesen Wunsch gewähren, aber wir möchten Sie bitten, oder vielleicht auch auffordern, sehr verantwortungsvoll mit dieser neuen Lebenssituation umzugehen. Und noch etwas. Sollten Sie jemals irgendeinen Wunsch äußern, der einem anderen Lebewesen Schaden zufügen könnte, verlieren Sie sofort diese Fähigkeit. Ausgeschlossen sind auch solche Wünsche, wie z.B. Teleportationen, d.h., die sie innerhalb von Sekunden an einen anderen Ort auf dieser Erde bringen würden oder auch Zeitreisen oder Ähnliches. Und Sie können sich auch nicht wünschen mit dem Wünschen aufzuhören. Sind Sie mit diesen Bedingungen einverstanden?“
Bruno war nur in der Lage, ein leises „Ja“ herauszupressen. Der Mann schaute ihn ernst an, „Gut, dann wünsche ich Ihnen viel Glück!“ und war im selben Moment nicht mehr da.
Bruno stand allein in der Dunkelheit, der Motor seines Autos lief immer noch, die Scheinwerfer erleuchteten ein Stück der Straße, auf der die ganze Zeit nicht ein einziges Auto vorbeigekommen war. Bruno hatte ohnehin nicht das geringste Gefühl dafür, wie lange dieses ganze Erlebnis gedauert hatte. War es ihm wirklich geschehen? Aber das Auto hatte sich ja nicht von selbst repariert! Und wieso hatte ihm der Mann Glück gewünscht? War es nicht ein ungeheurer, kaum zu glaubender Glücksfall, dass ausgerechnet ihm, Bruno Heller, die Chance seines Lebens geboten worden war?
Kopfschüttelnd und tief in Gedanken setzte sich Bruno wieder in sein Auto. Es würde eine ganze Zeit dauern, bis er das Erlebte verinnerlicht hätte. Jedenfalls würde er Margrit noch kein Sterbenswörtchen von seinem Erlebnis erzählen, sondern vielleicht erst, wenn er morgen einen ersten Test gemacht hätte.
Mit diesen Gedanken fuhr er nun endlich los Richtung Königswinter und holte Margrit bei ihrer Freundin ab.
Auf der Heimfahrt hörte er gar nicht genau auf den Redeschwall seiner Frau, zu sehr war er mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Auf ihre Frage, warum er denn so still sei, antwortete er nur, dass er nur ein bisschen müde sei, weil er eine anstrengende Woche hinter sich habe. Damit gab sich Margrit zufrieden.
In der Nacht war für Bruno kaum an Schlaf zu denken. Er tat zwar so, als ob er tief und fest schlafe, aber eigentlich war er hellwach und wälzte das Erlebte in seinen Gedanken hin und her. Das war so unwirklich, so fantastisch, so unglaublich, so unfassbar! Hätte er normalerweise eine Nacht nicht geschlafen, wäre er am nächsten Morgen todmüde gewesen. So aber sprang es schon aus dem Bett, als es dämmerte, ging unter die Dusche und fühlte sich frisch und energiegeladen. Keine Spur von Müdigkeit. Als er in der Küche darauf wartete, dass das Wasser für seinen Tee heiß wurde, sagte er ganz leise, damit es Margrit nicht hörte, „Ich wünsche mir… Ich wünsche mir heute sechs Richtige im Lotto!“ Er hätte natürlich auch sagen können, dass er den Jackpot knacken wolle, aber da es ja zunächst nur ein Test sein sollte, wäre eben auch die zweite Gewinnklasse ausreichend, um den Wahrheitsgehalt seiner neuen Fähigkeit zu überprüfen. Sollte dieser Wunsch tatsächlich in Erfüllung gehen, könnte er den Jackpot immer noch wünschen.
Nun hieß es warten, bis am Abend im Fernsehen die Lottozahlen verkündet werden würden. Seine Nervosität stieg immer mehr, je näher der Abend kam. Bis dahin hatte er sich mit allerlei belanglosen Dingen beschäftigt und insgeheim geschimpft, dass die Zeit so langsam verging. Doch endlich war es so weit. Als die Lottofee die Ziehung der Gewinnzahlen ansagte, hielt er voller Nervosität seinen Zettel bereits in der Hand, um die Zahlen mit seinem Tipp sofort vergleichen zu können.
Nach der ersten Zahl, die übereinstimmte, wusste er sofort in welche Tippreihe er schauen musste. Die zweite stimmte ebenfalls, bevor die dritte aus der Trommel fiel, sagte er sie bereits laut voraus, die vierte ebenfalls. Margrit, die neben ihm saß, schaute ihn erstaunt an. „Sag mal, kannst du neuerdings hellsehen?“ Aber Bruno achtete gar nicht auf sie, fünfte -stimmt, sechste – stimmt auch, Zusatzzahl – stimmt nicht. Bruno ließ sich zurückfallen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Sein Wunsch hatte sich erfüllt, er hatte sechs Richtige ohne die Zusatzzahl. Aber dann gab es kein Halten mehr. „Margrit, wir haben sechs Richtige im Lotto!“, wiederholte er immer wieder und tanzte durch das Wohnzimmer. Margrit blickte zunächst verdattert zu ihrem tanzenden Ehemann und bekam dann einen Glücks-Lachanfall. „Mensch, Bruno, Mensch Bruno“, wiederholte sie eins ums andere Mal, „was wir uns jetzt alles leisten können!“ „Moment, Moment!“, kehrte die Vernunft in Bruno zurück, „wir müssen erstmal abwarten, wie viele noch sechs Richtige haben. Es wird sicherlich ein hübsches Sümmchen, aber der Topf für sechs Richtige wird doch unter diesen Gewinnern aufgeteilt. Genaueres werden wir wohl erst am Dienstag erfahren, wenn die Quoten festliegen. Bis dahin, bitte, absolutes Stillschweigen!“
„Ja klar“, antwortete ihm Margrit, „ich fass‘ es immer noch nicht!“ Würde es eine Million oder mehr oder weniger? Und damit begann sie laut Pläne zu schmieden, was man mit dem Geld machen könnte.

Am Dienstag schlug Bruno am Frühstückstisch sofort die Zeitung auf um  nach den Gewinnquoten zu sehen. „Oh, da haben ja noch 12 andere sechs Richtige gehabt. Da gibt es für jeden etwas über 700.000 DM.“ Bruno ließ diese Zahl langsam auf der Zunge vergehen. Das war für ihn wirklich eine stolze Summe. Auch Margrit zeigte sich tief beeindruckt, obwohl, in der Woche vorher hatte es für jeden der nur drei Gewinner eins Komma sechs Millionen gegeben. Aber man durfte ja nicht undankbar sein. Schließlich war ihr Gewinn viel mehr als sie zu hoffen gewagt hatten.
„Wir werden auf keinen Fall mit dem Schein in die Lottoannahmestelle gehen, das gibt nur Gerede. Schließlich braucht niemand zu wissen, dass wir gewonnen haben. Ich werde mich direkt an die Lottozentrale wenden. Das ist das Einfachste“, meinte Bruno, während er vom Tisch aufstand, um seine Tasche zu holen, weil er ganz normal zur Arbeit gehen wollte. „Über alles andere reden wir, wenn ich heute Abend zu Hause bin!“, fügte er noch hinzu und verließ das Haus.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle wunderte er sich über sich selbst, dass er so bestimmt das Heft in die Hand genommen hatte, was in den Jahren seiner Ehe im Grunde noch nie vorgekommen war. Immer hatte Margrit bestimmt, wo es lang ging. Er nahm sich fest vor, dass das ab heute anders werden würde. Nicht, dass er sich zum Macho aufschwingen würde, aber die Dinge sollten ab sofort immer offen besprochen und dann gemeinsam entschieden werden.
Jedoch, grübelte er, gehörte zu dieser Offenheit auch, Margrit sein Erlebnis zu erzählen und den Grund zu nennen, warum sie nun im Lotto gewonnen hatten? Wäre diese Wunschfähigkeit auf Dauer zu verheimlichen? Würde Margrit das für sich behalten können? Konnte man das vor Sofia auch verbergen? Andererseits, er brauchte sich ja einfach nichts mehr zu wünschen. Aber könnte man wirklich wunschlos leben? Und was wäre, wenn er sich aus Versehen einmal etwas wünschte, ohne nachgedacht zu haben? Nun, die ganze Sache wäre auch beendet, wenn er etwas wünschte, das einem anderen Lebewesen Schaden zufügen würde. Doch könnte man wirklich so gewissenlos sein, jemand anderem zu schaden, damit man selbst aus den Problemen heraus wäre?
In seine Grübeleien drängte sich ein wenig der Gedanke an das Märchen vom Fischer und seiner Frau, das er als Kind mehr als einmal gelesen hatte. Könnte es sein, dass Margrit, wenn sie es einmal wüsste, ähnlich handeln würde? Ein bisschen traute er ihr das zu, schob den Gedanken aber sofort wieder weg.
Gedankenverloren betrat er das Firmengelände und begab sich an seinen Arbeitsplatz. Aber irgendwie konnte er sich heute gar nicht richtig konzentrieren und machte ein paar Fehler, die aber glücklicherweise niemandem sonst auffielen. Jedenfalls war er froh, als der Feierabend endlich da war und er nach Hause gehen konnte. Dort erwartete ihn jedoch ein anderes Problem: das Gespräch mit seiner Frau.
Während der Busfahrt drehten sich seine Gedanken wieder um dieselben Überlegungen wie am Morgen. Könnte es sein, dass sein genialer Geistesblitz gar nicht so genial gewesen war? Hätte er nicht lieber die drei Wünsche akzeptiert und wäre jetzt ohne diese offenkundigen Probleme? Doch jetzt war es zu spät. Jetzt kam er da nicht mehr heraus.
Zu Hause empfing ihn Margrit mit einem strahlenden Lächeln. „Weißt du, Bruno, ich habe mir gedacht…“. „Moment, Moment, ich bin ja kaum zur Tür herein“, hielt Bruno den zu erwartenden Redeschwall an, „machen wir uns einen schönen Kaffee und dann besprechen wir gemütlich, was zu tun ist!“ Wieder wunderte er sich insgeheim, dass er plötzlich Entschiedenheit an den Tag legen konnte.
Deshalb begann er auch gleich das Gespräch, ohne erwartungsvoll so lange zu schweigen, bis Margrit ihre Gedanken geäußert hatte. „Also als Erstes“, begann er, „werden wir die Hypothek komplett ablösen. Dann sind schonmal so um die 480tausend weg. Dann brauche ich dringend ein neues Auto, und es wäre auch gut, wenn du dir eins zulegen würdest, damit ich dich nicht immer irgendwo abholen muss. Das wären dann nochmal so hunderttausend. Und ganz toll wäre es, wenn wir in den Garten einen schönen Pool einbauen würden, überdacht und beheizt natürlich, damit man bei jedem Wetter ins Wasser kann. Ich habe schonmal gegoogelt, das wären rund 60tausend. Da wären wir bei 640tausend und es blieben noch rund 60tausend übrig.“
Margrit sagte zunächst gar nichts. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den großen Geldberg zu einem kleinen Häuflein zusammenschmelzen. Sie hatte da ganz andere Vorstellungen. „Ist es denn wirklich nötig, die gesamte Hypothek abzulösen? Außerdem hast du Sofia vergessen. Ich denke, dass wir für ihre Ausbildung, vielleicht auch Studium, einen Betrag von mindestens 50tausend zur Seite legen sollten. Und dann hätte ich so gern einen Wintergarten gehabt, komplett aus Glas. Die Küche hat mir von Anfang an nicht gefallen, ich habe nur nichts gesagt, um keine Probleme zu verursachen. Aber jetzt könnten wir eine so schöne offene Küche haben. Ein Pool! Was willst du mit einem Pool? Damit die Nachbarn ständig bei uns sind und sich im warmen Wasser aalen?“
Das Gespräch begann sich in Richtung einer Diskussion zu entwickeln, die von vielen Ehepaaren geführt wird, wo es sich eigentlich gar nicht mehr um den Diskussionsgegenstand dreht, sondern nur das in den Jahren innerlich vollzogene aneinander Vorbeigehen manifestiert, obwohl man weiterhin im selben Haus wohnt und nach außen hin zusammenlebt. Es war, als ob sich diese innerliche Entfremdung nun endlich frei machte aus dem Gefängnis der geheimen Gedanken und sich dem Gegenüber kalt präsentierte.
„Wir haben nur gewonnen, weil ich es mir gewünscht hatte“, schnitt Bruno schließlich die Diskussion, die zu nichts Vernünftigem führte, ab. Margrit schaute ihn ungläubig an. „Weil du es dir gewünscht hast?“, echote sie. „Bist du neuerdings der Herr des Schicksals?“, setzte sie spöttisch fort.
„Nein, natürlich nicht“, überging Bruno genervt diese Bemerkung. „Es ist nur so: Damit erzählte er seiner Frau in allen Einzelheiten von dem Abend auf Höhe des alten Klosters in Heisterbach. „Und deshalb, weil ich es auch kaum glauben konnte, habe ich mir testhalber sechs Richtige im Lotto gewünscht“, schloss er seinen Bericht.
Margrit schwieg eine ganze Weile. Dann lehnte sie sich zurück und meinte: „Und das soll ich dir jetzt glauben. Aber ich glaube eher, dass du eine blühende Fantasie hast und mich gewaltig auf den Arm nehmen willst. Das, was du erzählst, gibt es nämlich gar nicht. Das sind Dinge aus dem Märchen, und aus dem Alter sind wir beide ja nun schon sehr lange heraus. Du kannst mir viel erzählen. Aber wenn es tatsächlich so wäre – nur mal angenommen – warum hast du dir dann nicht gleich den Jackpot gewünscht? Dann hätten wir uns diese ganze Diskutiererei doch sparen können.“
Genau diese Reaktion hatte Bruno befürchtet, bzw. auch erwartet. Das würde ihm auch kein Mensch auf dieser Welt glauben und sein Erlebnis als Halluzination abtun. Doch dem stand der Lottogewinn entgegen, den er sich eindeutig gewünscht hatte. Er beteuerte Margrit immer wieder, dass er die reine Wahrheit gesagt hatte, dass ihm aufgetragen worden war, mit seinem Wunschvermögen verantwortungsvoll umzugehen, dass er auch nicht schizophren sei, und, und, und. Als er schließlich erschöpft innehielt, meinte Margrit mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck: „Na gut. Dann kannst du mir ja beweisen, dass du mich nicht anlügst. Ich denke schon eine ganze Zeit darüber nach, dass du jetzt schon so lange bei der Firma und im Grunde keinen Schritt vorangekommen bist. Wenn du diese Woche noch nichts gewünscht hast, dann wünsch dir doch einfach, dass du Abteilungsleiter in der Planungs- und Entwicklungsabteilung werden möchtest. Und sag es jetzt hier vor mir laut und deutlich!“
Da hatte seine Frau nicht ganz unrecht, dachte Bruno. Aber wäre er auch durch sein Fachwissen geeignet, so einen Posten auszufüllen? Besäße er die dafür notwendigen Führungsqualitäten? Wie sähe es mit seiner Kreativität aus? Das waren nur wenige Fragen, die ihm durch den Kopf schossen. Doch er konnte sich jetzt nicht auf deren Klärung einlassen. Er musste nun vor seiner Frau seine Glaubwürdigkeit beweisen. Also sagte er laut und deutlich: „Ich wünsche mir, Abteilungsleiter der Planungs- und Entwicklungsabteilung in meiner Firma zu werden!“
Kopfschüttelnd stand Margrit auf, verschwand in der Küche und ließ den etwas in die Enge getriebenen Bruno am Esszimmertisch zurück.
Zwei Tage später, am Donnerstag, kam der Abteilungsleiter auf ihn zu und bat ihn, mit ihm zu Dr. Rübsam, dem Generaldirektor, zu gehen. Bruno war sich unsicher, was das nun bedeuten sollte. Hatte es etwa mit seinem Wunsch zu tun oder war es irgendein anderer Grund?
Bruno war trotz seiner langjährigen Zugehörigkeit zur Firma noch nie in diesem Bereich des Unternehmens gewesen. Die Empfangssekretärin winkte sie gleich durch und sie betraten das gediegene, aber auch gemütlich eingerichtete Büro des Generaldirektors, der sich sogleich von seinem Stuhl erhob, um den Schreibtisch herum kam, beide mit einem freundlichen Lächeln und einem kräftigen Händedruck begrüßte und ihnen an einem Tisch Plätze anbot.
„Nun, Herr Heller“, eröffnete er das Gespräch, „Sie werden sich sicherlich gewundert haben, so unvermittelt zu mir gebeten worden zu sein. Dafür gibt es natürlich einen Grund. Herr Roth, Ihr Abteilungsleiter, hat seine Kündigung bei mir eingereicht, weil er zu einer anderen Firma an einem anderen Ort wechseln möchte, was sein gutes Recht ist. Aus diesem Grund haben Herr Roth und ich uns gedacht, dass Sie aufgrund Ihrer Leistungen und Ihres Einsatzes für unsere Firma seine Position übernehmen könnten. Was sagen Sie dazu?“
Bruno schaute ungläubig zwischen Herrn Roth und Dr. Rübsam hin und her, jedoch nicht wegen des Angebots, sondern wegen der nur ihm bekannten Tatsache, dass sein zweiter Wunsch auch tatsächlich Wirklichkeit werden würde.
„Sie sagen ja gar nichts“, lächelte Dr. Rübsam. „Gefällt Ihnen denn unser Angebot nicht?“
„Doch, doch“, entgegnete Bruno schnell, „ich bin nur ein bisschen verwirrt. Das kommt so plötzlich! Aber ich denke, ich nehme das Angebot an!“
„Prima, dann sind wir uns ja einig“, fasste Dr. Rübsam zusammen, „Herr Roth wird uns zum Ende des Quartals verlassen. Kommen Sie doch Anfang der nächsten Woche wieder zu mir. Da können wir uns Ihren neuen Vertrag anschauen und auch über das Gehalt sprechen!“
Damit erhoben sich die drei, Dr. Rübsam gab jedem die Hand und Bruno verließ mit Herrn Roth das Büro.
Auf dem Weg zurück in ihre Abteilung erläuterte Herr Roth seinen Entschluss, die Firma zu verlassen. „Ich habe in Köln die Stelle eines Prokuristen angeboten bekommen, was ich natürlich sofort akzeptiert habe. Es ist gut, wenn man von Zeit zu Zeit einmal die Tapeten wechselt, zumal dies auch mit einer finanziellen Verbesserung einhergeht. Hier in der Firma wünsche ich Ihnen alles Gute, Herr Heller. Ich werde Sie bis zu meinem Weggang noch in meinen Arbeitsbereich einführen. Das werden Sie schon packen. Da bin ich mir sicher.“
Doch Bruno war sich gar nicht so sicher, sagte das aber nicht. Er wusste, dass er ein sehr guter Fein-mechaniker war, aber hatte er auch das Zeug, neue Ideen zu entwickeln, kreativ zu sein, Verwaltungsangelegenheiten zu regeln, ein kooperativer Vorgesetzter zu sein, Probleme zu lösen, usw. usw. Vermutlich könnte er sich das alles zusammenwünschen, aber welchen Sinn sollte das haben? Es wäre dann ja nicht aus ihm selbst heraus gekommen. Dann könnte es wohl kaum zu seiner Zufriedenheit beitragen. Jedoch – jetzt müsste er die Stelle annehmen, schon allein Margrits wegen, damit sie ihn nicht für verrückt hielt und ebenso an seine Wunschfähigkeit glaubte.
Bis zum Feierabend zermarterte er sich das Gehirn mit den vielen Fragen, die plötzlich aufgetaucht waren. Und heute ging er mal wieder mit seinem Freund zu einem Bierchen in ihre Stammkneipe mit, weil er trotz der neuen Nachricht nicht so schnell zu Margrit nach Hause fahren wollte.
Beim zweiten Bier sagte er unvermittelt zu Wolfgang: „Ich war heute bei Dr. Rübsam.“ „Ach“, reagierte dieser und schaute Bruno erwartungsvoll an. „Herr Roth geht nämlich zum Quartalsende weg, und ich soll sein Nachfolger werden. Ich habe schon zugesagt.“
„Mensch Bruno, das ist ja mal ‘ne Nachricht. Da wirst du ja auch mein Vorgesetzter. Ich werd‘ nicht mehr!“, brachte Wolfgang hervor und klopfte ihm auf die Schulter. „Komm, darauf müssen wir noch einen trinken!“
„Mach dir keine Sorgen“, fügte Bruno hinzu, „wir werden trotzdem gute Freunde bleiben! Prost denn, auf die Zukunft!“
Bruno hatte die Bierchen nicht mitgezählt, aber es waren doch einige mehr geworden als sonst üblich. Jedenfalls fuhr er mit aufgekratzter Stimmung nach Hause und betrat etwas unsicher die Diele, wo ihn seine Frau schon erwartete. „Na, du kommst aber spät heute. Und deine Fahne riecht man schon auf zehn Meter Entfernung!“ Bruno grummelte so etwas wie „Guten Abend“, zog seine Jacke aus und meinte wie nebenbei: „Ich war heute bei Dr. Rübsam.“
„Ja, und?“
„Herr Roth geht am Endes des Quartals und ich soll sein Nachfolger werden! Abteilungsleiter!“
Margrit riss voller Staunen die Augen auf. „Mensch Bruno, dann funktioniert es tatsächlich, dein Wunschdingsda. Mensch Bruno, das ist ja irre. Wünschen! Wir können wünschen, und das geht dann in Erfüllung!“, fügte sie versonnen hinzu.
„Schön eins nach dem andern“, bremste Bruno die aufkommende Euphorie, „jetzt habe ich Hunger, ich bin müde und gehe heute früh schlafen. Morgen rufe ich bei der Lottozentrale an und nächste Woche regeln wir alles mit der Hypothek und so.“
Mit diesen Worten ging er ins Wohnzimmer, setzte sich auf die Couch und schaltete aus lauter Gewohnheit den Fernseher ein.
Nach ein paar Minuten kam Margrit aus der Küche und setzte sich neben ihn.  „Ich finde es so toll, dass du tatsächlich Abteilungsleiter wirst. Mal ganz abgesehen von dem Wunsch hast du es aber nach so langer Zeit in der Firma wirklich verdient.“
„Verdient?“, reagierte Bruno mit großen Zweifeln in seiner Stimme. „Ich weiß gar nicht, ob ich dieser Aufgabe überhaupt gewachsen bin. Bisher habe ich meine Sachen immer prima erledigt, ja! Aber als Abteilungsleiter musst du kreativ sein, Ideen entwickeln, Einfluss ausüben können, Menschen führen, Zusammenhänge erkennen und wer weiß, was noch. Und glaubst du etwa, dass ich mir das alles zusammenwünschen kann? Da bin ich aber sehr skeptisch. Man sollte zuerst immer nachdenken, bevor man etwas tut. Warum bin ich nicht auf das Angebot der drei Wünsche eingegangen und habe diese idiotische Idee gehabt?“ Bruno schüttelte seufzend den Kopf. Margrit legte ihm ihre Hand auf den Arm. „Aber du wirst doch Abteilungsleiter, oder?“
„Klar könnte ich noch absagen, aber wie stehe ich dann da? Welche plausible Begründung sollte ich dann vorbringen? Ich muss jetzt da durch, auch wenn …“
Bruno ließ den Satz unvollendet und erhob sich. „Ich geh schlafen! Ich will jetzt nicht mehr weiterreden. Gute Nacht!“
Bruno hatte sich ein paar Tage Urlaub genommen, um alle mit dem Lottogewinn verbundenen Angelegenheiten zu regeln. Er hatte den Besuch eines Lottoberaters abgelehnt, da es für ihn sehr klar war, wie das Geld zu verwenden sei. Bevor die Bank ihn auch wegen der beträchtlichen Überweisung zu einem Beratungsgespräch einladen konnte, ergriff er bereits selbst die Initiative und bat die Hypothek abzulösen. Dann richtete er ein Tagesgeldkonto für Sofia ein, das ihr Studium, daran zweifelte er nicht, absichern sollte. Nach der Bestellung von je einem vernünftigen und nicht protzigen Auto für sich und Margrit einigte er sich mit ihr schließlich darauf, dass sie eine tolle neue Küche und er seinen Pool mit Überdachung bekäme. Damit war der Gewinn bis auf ein paar Resttausender aufgeteilt.
„Wenn wir irgendwann einmal wieder etwas brauchen, kannst du es ja wünschen“, meinte Margrit auf dem Weg vom Autohändler nach Hause. Bruno warf ihr nur einen etwas abschätzigen Blick zu ohne einen Kommentar abzugeben.

Bruno stand am Fenster seines für ihn noch immer neuen Büros und schaute nachdenklich auf das Fabrikgelände und auf das Gebäude mit seiner Werkstatt, in der er so viele Jahre überwiegend komplizierte Arbeiten erledigt hatte. Das war nun vorbei. Seit drei Wochen war er offiziell der neue Abteilungsleiter. Roth hatte ihm während einer ganzen Woche vor der Übergabe eine Einführung in seine Aufgabenbereiche gegeben. Er hatte ihm sogar seine neue Telefonnummer mit der Bemerkung überreicht, dass er ihn anrufen könne, wenn er mit irgendeiner Angelegenheit nicht zurechtkäme. Bruno hatte ihm zwar höflich gedankt, aber innerlich gewusst, dass er sich diese Blöße nicht geben würde. Mit einem verhaltenen Seufzer kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, auf dem eine Menge verschiedenster Papiere lagen. Als Bruno das Angebot angenommen hatte, war ihm überhaupt nicht klar gewesen, welche Leitungsaufgaben zu dieser Position gehörten. Woher hätte er auch wissen sollen, dass in der Planungsabteilung wesentliche Aufgabenbereiche der Unternehmensleitung zusammengefasst werden, dass die Betriebsorganisation gestaltet werden muss, dass alle Planungsaufgaben im Unternehmen abzuwickeln sind und dass seine Abteilung für das Investitions- und Risikomanagement zuständig ist. Er musste in Zukunft die Verantwortung für die Überwachung der konkret abzuwickelnden Projekte tragen und in einer strategischen Planung festlegen, welche Projekte wann und in welcher Form in Angriff genommen werden sollen.
Für alle diese Dinge war er doch gar nicht ausgebildet und auch mit der Wünscherei nicht so schnell zu bewältigen. Er musste sowieso höllisch aufpassen, dass er sich nicht aus Versehen etwas wünschte, was in dem Moment völlig unangebracht war.
Er versank erneut in Grübeleien, und immer wieder tauchte in seinem Kopf in einem hämmernden Stakkato der Gedanke auf: „Hätte ich doch…, hätte ich doch…!“
Schließlich war die Hypothek abgelöst und hatte ihnen einen schönen finanziellen Spielraum beschert, er hatte seinen Pool, für Sofia war gesorgt, Margrit hatte ihre Küche, für Urlaube fehlte das Geld auch nicht mehr, Margrit hatte auf seinen Wunsch hin eine Stelle als Chefsekretärin in Beuel bekommen, war das alles nicht genug?
Jetzt saß er hier in einem Büro, das für ihn in jeder Hinsicht zu groß war. Seinen Freund Wolfgang sah er kaum noch, weil er immer länger als dieser in der Firma bleiben musste. Selbst wenn er sich wünschte, in einer seiner Aufgaben vorwärts zu kommen, so bedeutete das noch lange nicht, dass das zweifelsfreie Ergebnis seines Wunsches auch in seinem Kopf ankommen würde. Sollte er sich also zurückwünschen? Dann würde ihm eine ganze Zeitspanne seiner Lebenszeit  plötzlich fehlen. Ginge das überhaupt?
Bruno wusste in diesem Moment überhaupt nicht mehr, was er tun sollte, was für ihn ein vernünftiger Weg sein könnte. Mit einem Fluch warf er die Papiere, die er gerade in der Hand hielt, auf den Schreibtisch zurück, stand auf, nahm seine Aktentasche und seinen Mantel und verließ das Büro. Im Flur schaute er auf die Uhr. Schon wieder sechs Uhr durch. Alle anderen waren bereits nach Hause gegangen. Er war mal wieder der letzte.
Als er nach Hause kam, fand er einen Zettel auf dem Schuhschrank: „Bin bei Gerda. Essen steht auf dem Herd. Weiß nicht, wann  ich zurückkomme.“
Das kam in letzter Zeit ziemlich oft vor. Mit dem Erwerb des Autos für Margrit und ihrer neuen gesellschaftlichen Stellung – so nannte sie das - hatte sich ihr Freundinnenkreis in einem atemberaubenden Tempo vergrößert. Sie war fast nie mehr zu Hause, wenn Bruno aus der Firma kam. Bruno war gar nicht traurig über diese Situation. Sie fanden ohnehin nur mit Mühe einen Gesprächsstoff. Das gemeinsame Leben war wie ein Rinnsal im Sand versiegt und bei Margrit in diesem ständigen Wunsch nach Mehr und einem noch besseren Leben untergegangen. Seinen äußeren Ausdruck hatte diese gewachsene Distanz in der räumlichen Trennung ihrer Schlafzimmer gefunden, auch wenn Margrit das damit begründete, dass Bruno so unruhig schlafe, dass sie ständig gestört werde. Bruno war das ganz recht. Er hatte sich sein Zimmer gemütlich eingerichtet, besaß einen eigenen Fernseher und brauchte in diesem Punkt auch keine Rücksicht mehr auf Margrit zu nehmen.
Nachdem er gegessen hatte, zog er sich in sein Zimmer zurück, sah noch ein bisschen fern und versuchte dabei, die ihn täglich quälenden Gedanken abzuschalten.
Am nächsten Morgen betrat Bruno staunend die Küche und warf einen Blick zu dem bereits gedeckten Frühstückstisch hinüber. Margrit war gerade damit beschäftigt Rühreier zu machen und begrüßte ihn mit einem fröhlichen „Guten Morgen“. Brunos Eheantenne signalisierte ihm sofort „Vorsicht“, und das blieb auch so, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten. Er kannte inzwischen genau die Gesprächstaktik seiner Frau, vom Unverbindlichen, Harmlosen plötzlich zum Eigentlichen zu kommen, das in der Regel irgendetwas Größeres zur Folge hatte. Höchstwahrscheinlich hatte sie wieder einen Sonderwunsch in der Hinterhand.
Margrit erzählte ganz harmlos, dass sie sich einen Tag Urlaub genommen hätte, um mit ein paar Freundinnen einen Bummel durch Köln zu machen. Bruno hörte ihr mit einem Ohr zu und wartete innerlich gespannt auf den entscheidenden Punkt. Margrit plauderte vergnügt über ihren Besuch bei Gerda am gestrigen Abend und sagte dann unvermittelt: „Weißt du Bruno, ich habe mir überlegt, …“ Weiter kam sie nicht, denn Brunos Antenne löste sofort Alarm aus. Er sprang so abrupt auf,  dass sein Stuhl nach hinten kippte, seine Stimme aber ruhig und kalt klang: „Was du dir überlegt hast, interessiert mich nicht! Auf deine Überlegungen kann ich gut verzichten!“
Damit drehte er sich um, ging in die Diele, nahm Aktentasche und Autoschlüssel und verließ das Haus. Margrit blieb von dieser überraschenden Reaktion überrumpelt perplex am Tisch sitzen und hörte Brunos Auto davonfahren.
Kopfschüttelnd räumte sie den Tisch ab und die Spülmaschine ein und ging anschließend in ihr Zimmer, um sich für den Ausflug mit ihren Freundinnen zurecht zu machen. Als sie das Haus verließ und zu ihrem Auto ging, hielt plötzlich ein Polizeiwagen vor ihrem Grundstück. Zwei Beamte stiegen aus und kamen auf sie zu.
„Guten Tag! Sind Sie Frau Heller?“
„Ja!“ kam die angespannte Antwort.
„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass Ihr Mann einen Unfall hatte.“
„Wie? Wo? Wieso?“, stammelte Margrit wie vor den Kopf geschlagen.
„In der Haarnadelkurve kurz vor dem Kloster Heisterbach ist er von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Glücklicherweise waren gleich andere Autofahrer am Unfallort und haben sofort den Rettungsdienst verständigt, der nach wenigen Minuten vor Ort war. Ihr Mann hat überlebt und ist ins St.-Josef-Krankenhaus nach Königswinter gebracht worden.“
„Überlebt“, flüsterte Margrit.
„Wenn Sie wollen, können wie Sie mitnehmen und zum Krankenhaus bringen.“
„Ja, gut!“
Margrit setzte sich wie betäubt in den Streifenwagen, der sie zum Krankenhaus nach Königswinter brachte. Im Wartebereich vor der Notaufnahme identifizierte sie sich als die Ehefrau des gerade eingelieferten Bruno Heller. Nach einer geraumen Zeit, in der sie immer noch die ganze Situation als völlig unwirklich und sich im Warteraum einfach nur deplatziert fühlte, kam ein Arzt auf sie zu.
„Frau Heller?“
„Ja!“
„Ihr Mann ist nach seinem Unfall bei uns eingeliefert worden und von uns gleich mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln behandelt worden. Er befindet jetzt noch in der Notaufnahme und wird gleich auf die Intensivstation verlegt.“
„Kann ich zu ihm? Kann ich ihn sehen?“, unterbrach ihn Margrit sofort.
„Ja, natürlich, gleich! Allerdings“, der Arzt räusperte sich mit einem wie um Entschuldigung bittenden Blick, „liegt Ihr Mann im Koma!“
„Ist es schlimm?“
„Nun ja. Leider haben wir keine so guten Nachrichten für Sie! Ihr Mann hat bei dem Aufprall eine schwere Schädelverletzung erlitten, wodurch er ins Koma gefallen ist. Unsere, selbstverständlich vorläufige, Diagnose ist, dass er nach medizinischem Ermessen nicht mehr daraus aufwachen wird. Es tut mir wirklich leid, Ihnen das mitteilen zu müssen!“

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