Peter-Michael Sperlich........................................................................................................- zurück zu Index Erzählungen

Markt in Temuco

 

An diesem Wochenende werde ich nach Temuco fahren. Schon oft haben mir Kollegen angeraten, einmal den sonn­täglichen, höchst interessanten Markt in Temuco zu besu­chen, wenn wir uns darüber unterhalten hatten, welche Ge­genden und oft entlegenen Winkel in der näheren und wei­teren Umgebung ich in den ersten zweieinhalb Monaten in diesem Land schon gesehen habe.
An einem Wochenende tausend und mehr Kilometer zu fah­ren ist für mich inzwischen normal geworden, und trotzdem wundere ich mich noch in Augenblicken des Atemholens über die ständig fortschreitende Verschiebung der mir ge­wohnten Maßstäbe.
Bei diesen Ausflügen vermeide ich, soweit es geht, die Hauptwege. Ich muss von ihnen abweichen, biege in irgend­einen Seitenweg ein, der zumeist in einem höllisch schlechten Zustand ist, und überlasse es dem Zufall, ob mich dieser Weg meinem gesteckten Ziel näherführt oder mich zur Umkehr zwingt.
Wie gut, dass ich ein Auto mitgenommen habe, das ich bereits drei Tage nach meiner Ankunft mittels eines Carnet de pas­sage aus dem Zoll holen konnte, ein Unterfangen, das ohne dieses Zauberpapier Monate in Anspruch genommen hätte. ­Ohne das Gefährt wäre ich dazu verurteilt, in Puerto Montt bleiben zu müssen oder wäre auf das Entgegenkommen an­derer angewiesen.
Ich habe Hunger nach neuem Erleben, nach neuen Erfahrun­gen, ich möchte sehen, beobachten. Ich brauche mich nicht zu zwingen, offen zu sein, ich bin es, ich spüre, wie sich dieses Land mit seiner nur oberflächlich gezähmten Wildheit und fast unbeschreibbaren Schönheit in mir niederlässt, ich be­greife den Stolz, das Aufblitzen in den Augen der Menschen, wenn sie von Chile sprechen.
Wie oft halte ich unterwegs an, filme, fotografiere, immer neue Einstellungen, immer neue Blickwinkel, ich suche den richtigen Standpunkt, um meine Eindrücke entsprechend ins Bild zu setzen; ein Versuch, Dokumente der Erinnerung zu schaffen, sie zuzubereiten, um sie später bei Bedarf aus Schubladen hervorholen zu können, für mich, für andere.
Noch bin ich Tourist, Außenstehender, nur Beobachtender, aber auch Beobachteter. Ich bemerke die neugierig-fragen­den Blicke der Menschen in kleinen Dörfern oder Siedlun­gen, wenn sie sich umdrehen, mir zuschauen, einem Gringo, dem man schon von weitem ansieht, dass er gar nicht hierher gehört und der bald wieder verschwunden sein wird. Oft auch ein Kopfnicken, unsere Gesichter tauschen ein freund­liches Lächeln, aber wir bleiben stumm füreinander; sie ken­nen meine Sprache nicht, ich noch nicht die ihre. Die Sprache trennt mich von ihnen, von diesem Land.
Kontakt bleibt mir vorläufig nur mit denen, die meine Spra­che sprechen. Das sind zuerst meine Kollegen, auch andere dort ansässige Deutsche oder Deutschstämmige, und vor allem Tante Emma, meine Zimmerwirtin, Tochter deutscher Kolonisatoren, die unter unvorstellbaren Mühen den bis an das Meer heranreichenden Urwald gerodet und in blühendes Acker-­ und Weideland verwandelt haben. Ein ihre ganze Person durchdringender Stolz schwingt in allen ihren Erklä­rungen und Hinweisen mit, wenn ich ihr bei gelegentlichen gemeinsamen Mittagessen oder beim Abendbrot von meinen Erlebnissen erzähle. Sie erläutert mir die Verflechtungen in­nerhalb der Gesellschaftsschicht, zu der sie durch Geburt und Tradition gehört, von der sie nur "Tante" genannt wird und die sich bewusst streng absetzt von anderen Gruppen.
In dieser Zeit der politischen Umwälzungen mischen sich Bitterkeit und Verachtung für das "Pack" in die Erörterung täglich neuer Nachrichten über Landbeset­zungen und die Vertreibung der Besitzer durch Landarbeiter mit ihren Familien. Dabei halten ihre zweiundsechzig Jahre alten Hände fest den Matebecher umschlossen, der unab­dingbar zum Abschluss der Mahlzeiten gehört. Immer wieder gleiten meine Blicke ab auf diese Hände, feste, rissige, mit der Erde vertraute Hände, täglich neu verletzt durch Zweige, Pflanzen, die sich nur widerstrebend zu Kränzen und kunstvollen Gestecken binden lassen, zu einer der Einkommens­quellen Tante Emmas.
Eine weitere ist die Vermietung von Zimmern. Zurzeit bin ich der einzige Gast in dem für Tante Emma und ihre Haus­angestellte viel zu großen Haus, in dem das Leben auf die durch einen großen Küchenherd stets mollig warme Küche beschränkt bleibt.
Ich entrichte eine recht beträchtliche Summe für ein kleines Zimmer mit Bad über den Flur und einem kleinen Gasofen, der, wenn man ihn anzündet, vergeblich gegen die feuchte Kälte ankämpft.
Es ist schon Winter, einer der typischen -so die Einheimi­schen- hässlichen, sturmgepeitschten Juniregenwinter. Manchmal ist nur ein ganz unruhiger Schlaf möglich, wenn der "Temporal" so stark ist, dass er sich mit ungeheurer Wucht auf das ganz aus Holz gebaute Haus stürzt, versucht, irgendeine Lücke zu finden, um ein Stück der Außenwand oder des Daches triumphierend loszureißen und wegzu­schleudern, wenn der Regen gegen das lächerliche Hindernis der dünnen Fensterscheiben hämmert und wenn Wände und Fenster unter dem Anprall des Wassers erzittern, das der Sturm mit Riesenkräften aus dem nur wenige Steinwürfe entfernten Meer zu heben scheint und gegen das Haus jagt. Aber es wird nichts passieren, es ist noch nie etwas passiert. Schon fast achtzig Winter hat das Haus, das die Eltern von Tante Emma gebaut und ihr dann vererbt haben, ohne Scha­den überstanden, und es wird noch mehr überstehen.
Hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie nie geheiratet, hier sind ihre Eltern gestorben, hier wird sie bis zu ihrem Tode leben.

Am Freitagmittag fahre ich los. Das schlechte Wetter hat nicht vermocht, mich im Haus einzusperren. Filmkamera, Fotoapparat und Wörterbuch, mein treuester und wichtig­ster Begleiter, liegen griffbereit neben mir. Eine Tasche auf dem Rücksitz enthält die allernotwendigsten Sachen zum Wechseln; man braucht nicht viel für ein Wochenende. Zur Not werde ich, wie schon so oft, im Auto übernachten.
Kurz vor Valdivia, nachdem der Pass der Küstenkordillere hinter mir liegt und ich wie auf einem Damm durch riesige überflutete Landstriche fahre, die sich das Meer mit dem letzten schweren Erdbeben erobert hat, reißt die einförmige graue Wolkenmasse zum ersten Mal auf. Der attackierende Sturmregen ist in einen gleichmäßigen, verspielt trommeln­den Landregen übergegangen.
Die Hälfte des Weges liegt hinter mir. Ich würde gerne vor Einbruch der Dunkelheit in Temuco sein, aber trotzdem ver­zichte ich nicht auf meine schon zur Gewohnheit geworde­ne Rast im Café Palace, Treffpunkt der Studenten der Süd­universität.
Am Lastarria-Pass, dort, wo sich die Anden und die Küsten­kordillere vereinen, sich dem Zentraltal in den Weg legen, fahre ich schon nach den ersten Kurven in die Wolken hinein. Mehr ahnend als sehend, in einem fast greifbaren Zustand des Alleinseins, ertaste ich die ineinander übergehenden Kehren der Schlaglochfallen stellenden Straße, krieche scheinbar endlos hinter der Wand eines plötzlich aufgetauch­ten, hochbeladenen Lastwagens her, der sich die Steigungen hinauf schleppt, bis uns, schon wieder hinab fahrend, die fast undurchdringlichen Schwaden freigeben, uns hinab tauchen lassen in eine ganz andere Welt.
Das Land offenbart sich den Purpurstrahlen einer kühlen Wintersonne, die sich in königlicher Pracht verabschiedet, um der hereinbrechenden Nacht ihren Platz einzuräumen.

Am Sonntag stehe ich früh auf, man soll früh auf den Markt gehen. Ich hatte schnell ein Zimmer im "Frontera" gefunden. Jetzt, zu dieser Jahreszeit und zu einem Zeitpunkt, in dem niemand weiß, auf welche Seite das Land kippen wird, sind nur wenige Reisende anzutreffen.
Seit gestern hat das Wetter den Gedanken an Regen völlig vergessen lassen. Ich gehe gemächlich unter dem blassblauen Himmel und der Schattenbilder malenden Sonne zur Markt­halle, die sich über mehrere "Cuadras" ausdehnt. Darin eine unübersehbare Menge von Ständen, Stammständen für Fleisch, Fisch, Obst, Gemüse, Töpferwaren, Kunsthandwerk aus den verschiedensten Teilen des Landes. Nach einem Rundgang trete ich, immer sorgsam auf meine Fotoausrü­stung achtend, aus dem Stelldichein der verschiedensten Gesellschaftsschichten hinaus auf den großen Platz hinter der Markthalle, um mich an der klaren Luft ein wenig von dem Treiben zu erholen.
Hier sehe ich sie zum ersten Mal, derentwegen die glänzenden Augen meiner Kollegen auch mich neugierig gemacht haben, die in jedem Geschichtsbuch, in jedem Bildband erwähnt und beschrieben werden, die in ihren Lebensgewohnheiten er­forscht sind und doch die Geheimnisse ihrer Existenz be­wahrt haben: Mapuches, Angehörige eines jahrhunderte­alten, stolzen, einst kriegerischen Indianerstammes, die sich unter dem Ansturm zivilisierter Räuberhorden nach frucht­losem Widerstand in das Küstengebirge zurückgezogen ha­ben, das von ihnen besiedelte Land aufgeben mussten. Nur selten darf ein Fremder in ihre Siedlungen vordringen, erst nach besonderer Erlaubnis und unter Führung eines Orts­kundigen. Lange und beschwerliche Wege müssen sie auf sich nehmen, um am Sonntag rechtzeitig mit den Früchten ihrer Erde, mit den kunstvollen Erzeugnissen ihrer Hände auf dem Markt zu sein.
Gefangen von der Macht meiner Bildbandkenntnisse hebe ich die Kamera. Ihr von mir bestochenes Auge gleitet über indianische Gesichter mit deutlich asiatischem Einschlag, schwenkt über auf hochrädrige Karren mit überquellenden Waren, beobachtet auf Kisten hockende Männer, Frauen und Kinder, versucht, im Gegensatz zum Dämmerlicht in der Halle, die unter der inzwischen gleißenden Mittagssonne jubelnden Farben einzufangen, unauslöschlich festzuhalten.
Einer alten Mapuchefrau wendet sich meine besondere Auf­merksamkeit zu. Die hohe Anzahl der Jahre hat sich tief in ihr Gesicht eingegraben, und trotzdem ist ihre kleine Statur durch nichts gebeugt. Geschäftig bedient sie Kunden, rückt hier etwas zurecht, ordnet dort, wechselt ein paar Worte mit neben ihr Anbietenden, und immer wieder huscht ihr Blick aus zusammengekniffenen Augen zu meinem Tun. Wie an­gezogen nähere ich mich noch mehr. Ihr schwere Wolljacke über schwarzem Rock spiegelt alle Farben ihres Warenange­botes wider, um ihren Hals hängt eine typische Kette aus getriebenem Silber und Silbermünzen - ich kann mich eines begehrlichen Blickes nicht erwehren, denke ich doch an die Trophäen der Kollegen, mit denen sie von hier zurückge­kehrt sind.
Ich habe inzwischen die Kamera abgesetzt und schieße von ihr noch einige Aufnahmen mit dem Teleobjektiv. Wie gut sich die ausmachen werden!
Die Frau hat jetzt ihre Blicke fest auf mich gerichtet, mit ein paar schnellen Schritten steht sie gerade, fast herrisch vor mir, schaut mich mit klaren Augen an, ihr fast zahnloser Mund sagt etwas. Verwirrt stehe ich vor ihr, schaue sie ver­ständnislos an, bin unfähig, mich zu bewegen oder etwas zu tun. Sie muss mich von unten anschauen, und dennoch scheint sie mich zu überragen.
Da streckt sie mit fordernder, nicht bittender Geste die Hand aus, eine Hand, in die sich die rötliche Erde ihres Bodens eingegraben hat, so als ob diese begonnen habe, Besitz von ihr zu ergreifen. Immer noch hält sie ihre Hand hin, sagt wieder etwas dazu. Wie mit einem Zeitraffer nehme ich ab­rupt wechselnde Gefühle der Verwirrung, Empörung, Unsi­cherheit, Hilflosigkeit, Lähmung wahr, ich drehe mich um und gehe, nein, ich fliehe, zurück in die Stadt, zurück ins Hotel. Aus dem Auf und Ab der Gefühle tritt nur eins immer deutlicher hervor, das mich schließlich ganz erfasst: Betrof­fenheit.
Vor dem Mittagessen, beim Aperitif, blättere ich in einer Illustrierten, ich muss mich mit irgendetwas beschäftigen. ... Berichte mit Bildern von vielleicht wichtigen Personen, von Schauspielern, von Sängern, das Übliche. Ich schaue hin, aber ich sehe die alte Mapuchefrau, ihren Blick, ihre Hand.

 

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