Peter-Michael Sperlich...................................................................................................................................... - zurück zu Index Erzählungen

Post für mich

Der Wecker braucht gar nicht zu klingeln, ich werde meistens vorher wach, weil ich kurz vor sechs Uhr schon spüre, dass der Tag auf mich wartet. Früher, viel früher, da habe ich ihn des Öfteren ganz schön lange warten lassen, aber jetzt eigentlich nicht mehr. Denn es ist ein schönes Gefühl, wenn da jemand ist, der auf einen wartet. Dabei geht es mir ja noch gut, aber ich denke bei solchen Gelegenheiten an alte und sogar noch viel ältere Menschen, die wirklich niemanden mehr haben, der auf sie wartet, bis auf den neuen Tag eben. Und der verabschiedet sich dann auch irgendwann endgültig und für immer.
Aber am frühen Morgen schon solche trüben Gedanken zu haben, tut auch nicht gut. Schließlich gibt es viel zu tun und da stelle man sich den Anforderungen lieber mit freiem Kopf und frischer Tatkraft.
In die routinemäßigen Verrichtungen des Morgens, die jeder kennt, hat sich seit schon vielen Jahren eine andere Routine eingeschlichen, geboren aus der immer mehr wachsenden Technikorientierung unseres Zeitalters: zwischen Zähneputzen und Tischdecken geht der Gang mal schnell zu meinem Laptop: Deckel aufmachen, Knopf drücken, drahtlose Maus und Zusatzlüfter am USB-HUB – früher hätte man dazu „Steckerleiste für Zusatzgeräte“ gesagt -  einschalten und weiter Tisch decken. Der Computer ist da wie ein Mensch. Der funktioniert auch nicht sofort mit voller Leistung, sondern braucht ein bisschen Zeit, um so richtig auf Touren zu kommen. Dies ist eins der wesentlichen Motive, warum Computer so eng mit dem menschlichen Sein verknüpft sind.
Nach dem Frühstück, wenn möglich aber noch vorher – das hängt davon ab, wie lange die anderen im Bad brauchen – ruft der Laptop mich wieder zu sich: der Mail-Check steht an. In früheren Zeiten hätte man der Familie zugerufen: „Ich geh mal eben zum Briefkasten mal gucken, ob die Post schon da war!“ Diese lästigen Gänge braucht man heute nicht mehr. Man setzt sich gemütlich vor den Bildschirm, ruft seinen Mailserver auf und schaut nach, wie viele nette Menschen einem heute schon geschrieben haben. Oh, heute harren schon acht Mails, sprich Briefe, meiner. Hm, alles Newsletters, Neuheitenmitteilungen, nichts Privates. Mal sehen. Noch einmal Hm! Eine Münzsonderausgabe, speziell für mich, für nur 10 €, eine Risiko-Lebensversicherung mit einem Gutschein über 25 €, wie interessant, auf alle Druckerzeugnisse 25 % Nachlass - ob ich mir da doch ein Dutzend Kaffeetassen mit dem schönen Familienbild bestelle, da wäre für Weihnachten schon einmal vorgesorgt -, Druckerpatronen mit 10 % Rabatt, ein Computerprogramm Spracherkennung für nur 85 € statt 149 €, oh, und auch die neuen Prospekte sind da: Aldi, Edeka, Euronics, Telekom-Shop, Netto, Real, Penny, Rewe, MediaMarkt, Ikea, Rossmann, Kaufland, Norma, um nur einige zu nennen. Da muss ich mich ja jetzt richtig durcharbeiten. Ich glaube, ich sage die Einladung heute Abend zu Seifarts ab.
Alles nur Spitzenqualitäten in den Sortimenten, atmungsaktive, pflegeleichte Textilien, modisch im Trend liegende Basics, qualitativ hochwertige Gartengeräte, robuste Fahrräder zum Spottpreis, usw. usw. Das Tolle ist, alles immer so billig. Man kommt aus dem Sparen gar nicht mehr heraus. Seit vorgestern habe ich mir eine Liste angelegt mit den Dingen, bei denen man doch einfach zugreifen muss! Ich bin jetzt bei 634,99 € statt 969,99 €. Das sind doch wirklich Schnäppchen. Besser kann man nicht sparen.
Aber langsam wird mir das zu viel, das mit den Newslettern, die mir einfach so auf den Laptop geflattert  kommen. Ich frage mich immer, woher die Firmen meine Adresse haben. Von so vielen habe ich doch vorher noch nie gehört  oder gar gelesen. Deshalb habe ich angefangen, mich von den Newslettern abzumelden. Ich musste zuerst ganz schön suchen, aber diese Möglichkeit findet man immerhin ganz am Ende der Werbemail in klitzekleiner Schrift. „Wollen Sie wirklich nicht mehr über unsere Produkte und Preisvorteile informiert werden?“ Da schämt man sich ja schon fast, einen solchen Gedanken gehabt zu haben. Trotzdem, ich überwinde die Scham und melde mich ab, um zwei Tage später von derselben Firma eine Mail zu bekommen mit der Frage, ob ich denn nicht doch wieder den Newsletter bestellen möchte.
Da muss also in meinem Computer einer sitzen, der die Firmen über mich informiert. Trojaner heißen diese kleinen Tierchen.
Eines Tages erschien so ein kleiner Störenfried ständig auf meinem Bildschirm. Auf meiner Suche nach Beseitigungsmöglichkeiten fand ich das Programm Spy-Hunter (Spionjäger), das meinen Computer auf der Jagd nach solch bösen Programmen scannte – auf Deutsch „durchforstete“. Nach ungefähr zweieinhalb Stunden – mein Kopf fiel immer wieder in Richtung Tastatur – war der Scan mit beeindruckender Menge an erkannten Spähprogrammen fertig und ich drückte den Button „Beseitigen“. Blitzschnell erschien ein neuer Bildschirm: „Wenn Sie die erkannten Spähprogramme beseitigen wollen, müssen Sie Spy-Hunter erst kaufen, zum einmaligen Sonderpreis von 29,95 €.“
Da kann man doch glatt den Verdacht hegen, dass diese Firma selbst den Trojaner einschleust, um im Nachhinein das Beseitigungsprogramm zu verkaufen. Honi soit qui mal y pense! (Ein Schuft, wer Böses dabei denkt!)
Meiner Zurückhaltung sei jedenfalls Dank, dass ich diesem Angebot nicht auf den Leim ging, sondern doch noch ein anderes Programm fand, das den gleichen Dienst kostenlos erledigte. Während dieses Programm arbeitete, erstaunlich schnell übrigens, grübelte ich aber darüber nach, was man sich so ständig über seine Mailadresse auftischen lassen muss. Da bin ich dann immer froh, dass es so ein kleines Bildchen gibt, das wie ein Mülleimer aussieht. Da werfe ich jetzt meistens sofort alles rein.
Aber trotzdem verzweifle ich nicht, denn es gibt, wie das obige Beispiel zeigt, auch noch faire Menschen, die einem wirklich helfen. Die anderen gehören im Grunde abserviert – nur virtuell natürlich.

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