Peter-Michael Sperlich.............................................................................................................................. - zurück zu Index Erzählungen
Schlachtfest
Gertrud wusste nicht genau, was sie so früh schon geweckt hatte. War es der Hunger, der sie in der letzten Zeit nicht mehr gut schlafen ließ oder war es die Sommersonne, die an solchen himmelblauen Tagen schon morgens das Zimmer, das ihr in den letzten Monaten immer verhasster geworden war, wenigstens für einen kurzen Moment vergoldete und ihre Gedanken fort trug nach Hause, das niemals mehr ein Zuhause würde sein können. Die Sonne, freundliche Gefährtin im Augenblick der Erinnerungen, ihr ebenso zugetan wie jedem anderen in diesem Dorf, in diesem Land, auf dieser Welt. Sie machte keinen Unterschied.
Gertrud horchte aufmerksam zum anderen Zimmer hin, in dem Renate, Burkhard und Edwin, das stellte sie mit einem Seufzer der Erleichterung fest, noch schliefen. Es würde wohl nicht mehr allzu lange dauern, bis sie wach sein, sich wahrscheinlich gegenseitig wach machen würden. Wie konnte das auch anders sein, wenn sie in solch beengten Verhältnissen lebten, leben mussten. Das Schlafzimmer der Kinder war gerade groß genug, dass sich drei Betten hineinzwängen konnten und hier, ihr Zimmer war Schlafzimmer, Küche, Wohnzimmer, Esszimmer und Spielzimmer zugleich, wobei sie immer darauf bedacht sein musste, dass die Kinder nicht zu laut waren, um nicht von den Eltern der Bäuerin, die genau darunter wohnten, nicht gemaßregelt zu werden.
Gertrud richtete sich in ihrem Bett auf und lauschte nach draußen. Irgendetwas war anders heute Morgen. Natürlich gab es auf einem Bauernhof schon früh Geräusche, die den Tagesrhythmus einleiteten. Aber heute, obwohl es Sonnabend war und der Tag eigentlich gemächlicher beginnen sollte, gab es draußen auf dem Hof Unruhe, Stimmen flatterten über den Hof zu ihr hinauf, kündeten von einer ungewohnten Geschäftigkeit. Leise erhob sie sich, um am Fenster, das in den Hof hinunterschaute, nach der Ursache für dieses so frühe emsige Treiben zu sehen, denn der Wecker hatte ihr gerade erst sechs Uhr angezeigt.
Auf dem Hof waren etwa dreißig Personen mit den verschiedensten Verrichtungen beschäftigt. Gertrud erkannte sämtliche Nachbarn, deren Kinder und einige andere Personen, die ihr noch nicht begegnet waren. Einige bauten gerade in der Mitte des Hofes aus Holzböcken und langen Brettern einen langen Tisch auf, andere brachten große Bottiche und stellten sie vor der Mauer zum Misthaufen säuberlich in eine Reihe, drei Männer waren dabei, in einem Steinkreis ein Feuer zu entfachen, einige Frauen schleppten Eimer mit anscheinend heißem Wasser herbei und die Kinder wurden zu kleinen Hilfsarbeiten oder Botengängen gerufen. Ein kräftiger Mann mit einer weißen Gummischürze, die fast auf den Boden reichte, richtete unmittelbar vor der Hauswand, gleich unter ihrem Fenster, aus dicken Bohlen so etwas wie eine Arbeitsbank her, und da erkannte Gertrud sofort, was diese ganzen Vorbereitungen zu bedeuten hatten: man würde ein Tier schlachten, wahrscheinlich ein Schwein.
In diesem Moment quietschte hinter ihr die Tür zum Schlafzimmer der Kinder, Renate erschien noch etwas schlaftrunken mit Burkhard hinter sich, der sich fest an ihr Nachthemd geklammert hatte, und den kleinen Edwin, der sein Bettchen noch nicht allein verlassen konnte, hörte sie herzhaft gähnen.
„Kann nicht mehr schlafen“, sagte Renate, „is zu laut!“ „Hunger!“, sagte Burkhard und Edwin krähte: „Boot!“, was natürlich „Brot“ heißen sollte und Gertrud darauf hinwies, dass auch er Hunger hatte.
Hunger – dieses Wort, das mächtig und erdrückend inzwischen jeden Tag ihres Lebens zu seinem Sklaven machte. Immer wieder war ihr Erfindungsreichtum gefordert, um ihre Kinder von diesem tagaus tagein lauernden Angreifer abzulenken, ihn vielleicht doch vorübergehend mit anderen Gedanken verdrängen zu können. So brachte sie die Kinder immer schon spätestens um halb sechs zu Bett und war froh, wenn sie auch morgens so lange wie möglich schliefen und dann auch mittags zumindest zwei Stunden Mittagsschlaf hielten. Voraussetzung war natürlich, dass sie immer irgendetwas erfand, das die Kinder auch entsprechend müde machte. Denn wenn Kinder schlafen, ist selbst der Hunger machtlos.
Deswegen war es ihr heute auch gar nicht recht, dass die Drei schon so früh von dem Treiben auf dem Hof geweckt worden waren. Aber jetzt war das ja gleichgültig geworden. Vielmehr musste sie zusehen, wie sie den Hunger der Kinder möglichst lange in Schach halten konnte. Erst am Montag, also übermorgen, konnte sie sich wieder in die lange Schlange vor dem Amt einreihen, um ihre Lebensmittelkarten für eine Woche zugeteilt zu bekommen. Jetzt hatte sie praktisch bis auf ein paar Scheiben Brot, ein bisschen Zucker, den sie wie einen Schatz hütete und genau vier Kartoffeln nichts mehr zu essen im Haus.
Während sie den Herd anfeuerte, Wasser aufsetzte und eine Kanne mit getrockneten Brennnesselblättern bereit stellte, um einen Frühstückstee aufzugießen, beschloss sie, etwas später, nachdem jeder eine Scheibe Brot und eine Tasse Tee bekommen hatte, mit den Kindern wie schon so oft in den nahe gelegenen Wald zu gehen. Dort würde sie nicht nur ein wenig Holz sammeln, sondern auch die Stellen aufsuchen, an denen sie Hallimasch-Pilze, vielleicht sogar ein paar Steinpilze finden könnte. Die Kinder könnten dann in der Zwischenzeit ihre Milchkanne voll Heidelbeeren sammeln. Auf dem Nachhauseweg würden sie auch an einem Kartoffelfeld vorbeikommen, wo sie diesmal einige Knollen aus der Erde graben könnte, da heute wohl keine Gefahr der Entdeckung bestehen würde, denn schließlich waren die Nachbarn, denen das Feld gehörte, vollzählig auf dem Hof versammelt.
Ein schrilles, durchdringendes Quieken ließ Gertrud und die Kinder urplötzlich zusammenfahren und zum Fenster stürzen. Der Metzger und zwei andere Männer bugsierten mit vereinten Kräften ein Schwein aus dem Stall auf den Hof, das sich, den nahen Tod wohl ahnend, lauthals quiekend vergeblich dagegen zu wehren versuchte. Ein röhrenförmiges, an den Schweinekopf gehaltenes Gerät sorgte im Bruchteil einer Sekunde mit einem dumpfen Geräusch für Totenstille, sogar zu einem plötzlichen Anhalten der Geschäftigkeit aller Anwesenden wie zu einem kurzen Moment des Gedenkens. „So schnell hebt sich die Schranke zum Tod“, schoss es Gertrud durch den Kopf. Sie zog die Kinder wieder vom Fenster weg hin zum Tisch, an dem sie nun ihr kärgliches Frühstück einnahmen. Anschließend zogen sie sich an und verließen das Haus. Obwohl sie über den Hof mussten, vorbei an den vielen Leuten, schien sie niemand zu bemerken. Man hatte sich daran gewöhnt, sie nur als Schatten, die flüchtig vorüberhuschen und keinerlei Bedeutung haben, wahrzunehmen.
Als Gertrud mit ihren Kindern gegen die Mittagszeit mit einer Tasche voller Pilze, der mit Heidelbeeren gefüllten Milchkanne, den am Boden des Kinderwagens versteckten Kartoffeln und dem sorgsam auf dem Kinderwagen aufgeschichteten und zusammengebundenen Holz nach Hause zurückkehrte, war der Hof von Stimmengewirr und gelegentlichem Gelächter erfüllt. Aus der Räucherkammer kräuselte sich blauer Rauch in den reinblauen Himmel, in den großen Bottichen warteten verschiedene Wurstmassen auf ihre weitere Verarbeitung und ein herrlicher Duft nach gebratenem Fleisch stieg von der Feuerstelle auf. „Lieber Gott, Fleisch! Guck nicht hin, Gertrud, guck nicht hin, lass Dir nichts anmerken. Du riechst nichts, du siehst nichts!“ So zwang sich Gertrud eine möglichst unbeteiligte Miene aufzusetzen.
Der Metzger und alle seine Helfer saßen rund um die am frühen Morgen aufgebaute Tafel, teilweise mit von der Arbeit oder dem Bier oder der Sonnenglut hochroten Köpfen, und ließen sich mit sichtbarem Genuss die Suppe aus dem dampfenden Riesentopf und das saftig tropfende Fleisch schmecken.
„Bringst du bitte Edwin ins Bett und hilfst mir dann die Pilze sauber zu machen?“, fragte Gertrud Renate, als sie deren sehnsüchtige Blicke zu dem Festmahlstisch hin bemerkte. „Klar“, beeilte sich Renate zu sagen und half ihrer Mutter, ihre Schätze nach oben zu tragen.
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