Peter-Michael Sperlich.................................................................................................................- zurück zu Index Erzählungen

Nein!

Es klingelte. Pünktlich. Jeden Tag klingelte es pünktlich, genau um 13.20 Uhr, Aufforderung für alle Internatsschüler zum Händewaschen. Dann die Treppe hinunter und durch den langen Korridor, um vor dem nächsten Klingelzeichen um 13.30 Uhr den Speisesaal betreten zu haben. Niemand wollte Gefahr laufen zu spät zu kommen, was eventuell einen Ausschluss vom Mittagessen bedeutet hätte.
So stellte sich ein Schüler nach dem anderen hinter seinen Stuhl, jeweils acht davon um einen der insgesamt vierzehn runden Tische angeordnet, und wartete geduldig, bis auch die beiden Präfekten und der Internatsleiter hereingekommen waren. Kaum war das zweite Klingeln verstummt, als ein Schüler der Abschlussklasse, Privileg dieser Altersstufe, ein kurzes Tischgebet sprach und danach alle Schüler geräuschvoll an ihren Tischen Platz nahmen.
Florian saß der Sitzordnung entsprechend ganz vorne rechts bei den Sextanern, den Kleinsten, den Schülern der ersten Klasse des Gymnasiums. Am liebsten wäre er heute aber gar nicht zum Mittagessen gegangen, wieder umgekehrt oder, besser noch, zu spät gekommen, denn schon vor dem Betreten des Speisesaales hatte er es gerochen.  Aber die stärkere Angst sich vor allen zu blamieren bewegte seine Beine widerstandslos zu seinem Tisch. „Wieso kann der vorbetende Schüler ‚Herr, segne diese Gaben, die wir von dir empfangen haben’ sagen“, schoss es ihm durch den Kopf. „So etwas Grauenhaftes kann man doch nicht segnen!“
Heute war Freitag, und Gott sei Dank nur wenige Male im Jahr gab es Fischfrikadellen, ein Gericht, das ihm nicht nur durch seinen tranigen Geruch fast den Magen umdrehte, sondern auch sein ästhetisches Empfinden dadurch anwiderte, dass, wenn man mit der Gabel fest auf die Frikadelle drückte, das Öl dick daraus hervorquoll.
Nach der Vorsuppe standen sie dann schließlich auf dem Tisch, genau abgezählt, acht braune, daumendicke Klopse, die einen für ihn Übelkeit erregenden Geruch nach altem Fisch ausströmten. Florian ließ seinen Klops auf dem Servierteller liegen und bediente sich nur an der Kartoffel- und der Salatschüssel. Entgegen  den bisherigen Malen wollte heute niemand am Tisch einen zusätzlichen Fischklops, so dass der seine dort einsam und allein auf dem weißen Teller liegen blieb und ständig seine Blicke auf sich zog, so wie es häufig geschieht, wenn man etwas Scheußliches sieht und, statt weg zu sehen, immer wieder hinsehen muss.
Ohne dass er es bemerkt hätte, stand plötzlich der für die Kleinen zuständige Präfekt hinter ihm. „Wem gehört der Fischklops?“ fragte er. Wie auf Kommando sahen ihn seine sieben Kameraden an, und ihm blieb nichts anderes übrig als „Mir!“ zu hauchen. „Essen!“ befahl der Präfekt und entfernte sich zur Fortsetzung seines Rundganges durch den Speisesaal.
Nun lag das Ding auf seinem Teller, aber er würde es nicht hinunter bringen können. Also zerteilte er es erst einmal in zwei Hälften, damit es wenigstens angegessen aussah. Aber das nützte nicht viel. Als der Präfekt bei seiner zweiten Runde wieder vorbei kam, verhielt er nur ganz kurz seinen Schritt und befahl: „Na, los jetzt, essen!“
In seiner aufsteigenden Verzweiflung hatte Florian plötzlich eine geniale Eingebung. In seiner Hosentasche steckte zufällig ein Blatt Papier aus einem Heft. Er nahm es schnell heraus, legte es auf den Tisch und die beiden Frikadellenhälften darauf. Obwohl das Papier zu klein war, um sie komplett einzuwickeln, steckte er das Päckchen so wie es war in seine Hosentasche. Geschafft!
Fast wäre der Präfekt auf seiner dritten Runde an Florian vorbeigegangen, aber er stutzte plötzlich, trat näher an dessen Tisch heran, schaute auf den nun leeren Teller und fragte: „Hast du den Klops schon gegessen?“ Keine Antwort. „Was hast du mit dem Klops gemacht?“, war seine nächste Frage. Florian gab immer noch keine Antwort, jedoch der Druck der religiösen Erziehung, die er vor dem Eintritt ins Internat genossen hatte und der er hier noch stärker ausgesetzt war, ließ seine Hand zu seiner Hosentasche wandern und das fettige Päckchen mit seinem inzwischen mehr oder weniger zerbröselten Inhalt herausnehmen. „Hier!“ flüsterte er fast unhörbar mit halb erhobener Hand.
„So!“ verkündete der Präfekt mit unnachgiebiger Stimme, „du wirst jetzt hier so lange sitzen bleiben, bis Du den Klops aufgegessen hast!“
Florian blieb ganz allein im Speisesaal zurück, vor ihm sein Teller mit den inzwischen auch kalten Fischfrikadellenstückchen. Er war fest entschlossen: er würde dieses Zeug nicht essen, und wenn er hier tagelang sitzen bleiben müsste.
Eine Küchenangestellte kam heraus, um die Tische abzuwischen, sah ihn dort vor seinem Teller sitzen und fragte ihn nach dem Grund. Florian erklärte ihr, dass der Präfekt ihm befohlen hätte, den Klops aufzuessen, dass er es aber ganz sicher nicht tun werde. Als sie ihre Arbeit beendet hatte, verschwand sie wieder in der Küche, nicht ohne dass sie dem Jungen einen zwischen Zweifeln und Mitleid schwankenden Blick zugeworfen hatte. Er blieb wieder allein zurück.
Es klingelte. 15 Uhr. Silentium, die Hausaufgabenzeit. Florian hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Eine weitere halbe Stunde verstrich. Plötzlich öffnete sich die Tür zur Küche und die Angestellte von vorhin erschien. Sie kam geradewegs auf ihn zu. „Komm, gib mir deinen Teller, ich werde die Frikadelle wegtun. Aber das bleibt unter uns, ja? Und jetzt ab durch die Mitte und mach deine Hausaufgaben!“
Dankbar lächelte Florian sie an, stand auf und verließ beschwingt den Speisesaal, getragen vom Hochgefühl einer gelungenen Verschwörung und zufrieden den Sieg genießend: Er hatte die Frikadelle nicht gegessen.
Schnell holte er seine Schultasche aus seinem Spind und begab sich wieder nach unten zum Silentiumsraum. Als er die Tür öffnete, hob der Präfekt leicht den Kopf und bedeutete ihm ohne den geringsten Kommentar, sich auf seinen Platz zu setzen. Von dort aus warf Florian einen Blick auf den Präfekten: es machte ihm nichts aus, dass der nicht wusste, dass er verloren hatte! Hauptsache, Florian wusste, dass der Präfekt nicht mehr allmächtig war.

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