Peter-Michael Sperlich..................................................................................................................................... - zurück zu Index Erzählungen

Ein netter Mann


„Ach Meinhard, könntest du bitte so nett sein und mir zwei Gläser Bohnen aus dem Keller holen?“, rief Frau Brandstetter ihrem Sohn zu, der gerade im Wohnzimmer mit einem Bier vor dem Fernseher saß und ein paar Chips dazu knabberte. „Na klar“, Mutter,“ antwortete dieser und war schon auf dem Weg. „Kann ich sonst noch etwas für dich tun?“ fragte er herzlich seine Mutter, als er ihr die Gläser auf die Anrichte stellte. Dabei fiel sein Blick auf ihren immer noch geraden Rücken, ihren faltenlosen Hals und ihre leicht ergrauenden Haare. Nein, ihre 74 Jahre sah man ihr immer noch nicht an.
„Nein, nein, im Moment nicht,“ antwortete ihm diese nun, „geh ruhig wieder fernsehen, bis das Mittagessen fertig ist.“ Und still für sich dachte sie: „Ach, habe ich ein Glück, dass Meinhard wieder zurückgefunden hat und mir so oft hilfreich zur Hand geht. Wenn ich da an früher denke!“
Meinhards Verhältnis zu seiner Mutter war nicht immer so gut gewesen, besonders, als sein Vater noch lebte. Deshalb war er früh ausgezogen, hatte dann Tischler gelernt, verschiedene Liebschaften gehabt und schließlich ohne großes Federlesen geheiratet, eine Bulgarin. In seinem Beruf war er zuverlässig, talentiert, erfolgreich und sehr gut von seinem Chef und seinen Arbeitskollegen angesehen. Es machte Spaß mit ihm zusammen zu arbeiten. Es war ihm gut gegangen, finanziell hatte er sich nie Sorgen zu machen brauchen.
Der Tod seines Vaters war an ihm völlig vorbeigegangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er mit einem Kumpel eine Tour nach Thailand gemacht, zu der seine Frau aber nicht hatte mitkommen wollen. Und dann, eines Tages, es war inzwischen sechs Jahre her, hatte er doch wieder seine Mutter angerufen. Frau Brandstetter konnte sich noch genau an seine Worte erinnern: „Hallo, Mutter, Darina ist weg, meine Frau, einfach so! Weg! Einfach so!“
Es hatte mehr Ratlosigkeit als Verzweiflung in seiner Stimme gelegen, zumal seine Frau anscheinend außer rein persönlichen Sachen nichts mitgenommen hatte. Es war auch kein Streit vorausgegangen, der vielleicht einen Grund geliefert hätte. Vielleicht war sie aus Heimweh nach Bulgarien zurückgegangen, vielleicht hatte sie jemand anderen kennengelernt, vielleicht, vielleicht.
Meinhard hatte noch ein paar Wochen gewartet, ob sie nicht doch zurückkäme, aber keine Vermisstenanzeige gestellt. Wer sollte sie denn suchen, da, irgendwo in Bulgarien? Schließlich hatte er seine Wohnung aufgegeben und war zu seiner Mutter gezogen. Sie hatte ja genug Platz in ihrem kleinen Haus, und er konnte ihr bei vielen Dingen zur Hand gehen und auch zu ihrem Lebensunterhalt beitragen, so dass es beiden nicht schlecht erging.
Wie immer nahmen sie in der Küche ihr Mittagessen ein und besprachen dabei die Arbeiten, die Meinhard in seiner restlichen Urlaubszeit noch im Haus erledigen wollte. Auch die Haustür von Familie Gruber am Ende der kleinen Stichstraße, in der Frau Brandstetter mit Meinhard wohnte, hatte er versprochen zu richten, so, wie viele der Nachbarn ihn immer wieder um irgendeine Gefälligkeit baten, die er aufgrund seines Berufes ausführen konnte, und sehr froh darüber waren, dass er niemals eine solche Bitte ablehnte. Mehr als einmal bekam er dann zu hören, wie froh alle diese Leute waren, ihn in ihrer Nachbarschaft zu wissen.
Am Nachmittag beschäftigte sich Meinhard im Keller mit dem Bau einer kleinen Vitrine, die er seiner Mutter zu ihrem nächsten Geburtstag schenken wollte. Versonnen betrachtete er die Messer und Stechbeitel, die ihm die Vollendung dieses wunderbaren Werkes mit Intarsien und Schnitzereien gelingen ließen. Noch in die Betrachtung versunken spürte er, wie in ihm langsam eine Unruhe aufstieg, die er aus anderen Momenten bereits gut kannte, ein aus seinem Inneren aufkommender Drang, ein Zwang zu tun, was getan werden musste. Langsam, fast wie in einer vorübergehenden Trance, ging er zu seinem peinlich sauber aufgeräumten Werkzeugschrank – alles hatte immer an seinem korrekten Platz zu sein -, entnahm ihm ein schmales, längliches Päckchen, löschte das Licht und ging nach oben in sein Zimmer und wartete.
Als die Dunkelheit längst hereingebrochen war und seine Mutter mit Sicherheit schlief, folgte Meinhard nun eingeübt wirkenden und präzisen Handgriffen. Dabei begann sich in ihm eine Vorfreude, der Vorgeschmack auf ein späteres Hochgefühl auszubreiten. Er war völlig in schwarz gekleidet und in seinem kleinen Rucksack befand sich nun sein „Werkzeug“, wie er es liebevoll nannte.
Er öffnete leise sein Fenster und stieg vorsichtig an der als Spalier getarnten Sprossenwand in den Garten hinunter, schlich sich zu seinem Fahrrad, das an der Garagenwand lehnte und fuhr in die Nacht hinein, ans andere Ende der Stadt, weil er genau wusste, dass er möglichst weit weg von seinem Wohnort sein Vorhaben in die Tat umsetzen musste, um nicht entdeckt zu werden. Dazu zählte auch, möglichst keine Haupt- oder Durchgangsstraßen zu benutzen.
Dort angekommen schob er sein Fahrrad in ein ihm gut bekanntes Gebüsch, zog sich seine schwarze Sturmhaube über und murmelte lächelnd vor sich hin: „Meinhard, die Jagd ist eröffnet!“
Ihm war es egal, wen er heute erjagen würde. Es war wichtig für ihn, keinerlei Beziehungen zu seinen Opfern zu haben. Für ihn zählte etwas völlig anderes. Das, was ihm dieses unsägliche Hochgefühl bescherte, war die Tatsache, dass er ganz allein darüber entscheiden konnte, wann das Leben eines Menschen zu Ende war. Das war genau das, was ihn aus der gemeinen Masse heraushob und ihn zum Gott des Schicksals machte.
Leise schlich Meinhard nun durch einen kleinen Park, eins mit der Nacht, fast die Nacht selbst. Da stockte urplötzlich sein Schritt, als er in kurzer Entfernung eine Zigarette kurz aufglühen sah und auch schon den Tabakduft aufnahm. Zwei leise Stimmen schwebten zu ihm herüber. „Aha, ein Pärchen!“
Langsam griff Meinhard hinter sich in seinen Rucksack, zog aus dem schmalen Päckchen, das er aus seinem Werkzeugschrank genommen hatte, ein rasierklingenscharfes Messer und aus seiner Hosentasche eine Laserlampe hervor. Damit näherte er sich lautlos wie ein Nachtvogel dem Pärchen, so dass er fast mit der Parkbank zusammenstieß. Was nun folgte, war die Routine, die er schon so oft in seinem Keller geübt und auch schon häufig angewandt hatte. Lampe an und Zustechen in den Rücken des Mannes war eine einzige Bewegung, Lampe fallenlassen und den sich anbahnenden Schrei der jungen Frau im Keim ersticken, wobei er sie über die Lehne der Parkbank nach hinten bog, so dass sie sich nicht rühren konnte. Blitzschnell zog er ein Tuch aus seiner Jackentasche und stopfte es ihr in den Mund. Wie in einem Schraubstock hielt er sie weiter über die Lehne gebogen, entnahm aus seiner anderen Jackentasche ein Nylonseil und band die Frau in dieser Position an der Bank fest.
Obwohl das Ganze nur wenige Sekunden gedauert hatte und in fast völliger Lautlosigkeit geschehen war, ging sein Atem schwer, weil es ihn doch eine ziemliche Anstrengung gekostet hatte. Er würde sich für das nächste Mal eine bessere Methode ausdenken müssen, die ihm leichter von der Hand gehen müsste.
Er stieß den in sich zusammengesunkenen toten Mann von der Bank, setzte sich neben die Frau und zog gleichzeitig sein zweites Messer aus dem Rucksack. Es wäre für ihn nun ein Leichtes gewesen, die Frau zu vergewaltigen, aber von solchen niederen Instinkten wollte er sich nicht hinreißen lassen. Das, was er zu erfüllen hatte, war etwas viel Höheres und diente einer geistigen Befriedigung.
„Du weißt, dass du sterben musst“, flüsterte er nun der gefesselten Frau ins Ohr, von der er nur ein Stöhnen als Antwort erhielt. „Aber mach dir keine Sorgen, das geht ganz schnell. Ich bin ja schließlich kein Sadist!“, fügte Meinhard nun leise hinzu. Dabei setzte er die Messerspitze auf ihre Bluse und mit einem kräftigen Ruck stach er seinem zweiten Opfer ins Herz. Lächelnd beugte er sich zu ihr hinüber und lauschte tief zufrieden ihrem letzten Atemzug. Er blieb noch eine Weile dort sitzen und genoss die Stille, eine Totenstille. Er wurde sich bewusst, wie der Druck in ihm völlig verschwand und einer entspannten Zufriedenheit Platz machte.
Niemand hatte das Geschehen beobachten können und er war sich ganz sicher, dass auch diesmal keinerlei Verdacht auf ihn fallen würde. Wie immer würde die Polizei vor einem Rätsel stehen.
Als er die beiden Messer wieder an sich nahm, blitzte plötzlich die Erinnerung an Darina in ihm auf. Auch sie hatte sich damals nicht wehren können und ihr Schicksal, über das er die Entscheidung getroffen hatte, akzeptieren müssen.
Auf dem Nachhauseweg, auf dem er wieder nur kleine Nebenstraßen nahm, begegnete er keiner Menschenseele. Er hatte es nicht anders erwartet.
In seinem Zimmer versteckte er sein „Werkzeug“ und die Sturmhaube in seinem Kleiderschrank, weil er erst am anderen Morgen alles reinigen und desinfizieren konnte, legte seine schwarze Kleidung ab und zog sich leise vor sich hin summend seinen Pyjama an.
Kurz bevor er entspannt in den Schlaf sank, erinnerte er sich daran, dass er Frau Heubler, seiner Nachbarin, versprochen hatte, ihr nach dem Frühstück den Rasen zu mähen, weil ihr Mann gerade im Krankenhaus lag.

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