Glück gehabt..................................................................................................................................................>> zurück zu Index Erzählungen


Seit seiner Kindheit liebte Florian die Zeiten der Kirmes. Im Farbenspiel der Lichter, der Musik aus dröhnenden Lautsprechern, den verlockenden Buden und Karussells mit ihren Anreißern, dem Gemisch aus verführerischen Düften nach gebrannten Mandeln, Bratwurst, Waffeln und vielem mehr hatte für ihn immer eine magische Verzauberung gelegen, die ihn für eine kurze Zeit der Realität des täglichen Lebens entrückt hatte. Im Laufe der Jahre war diese Verzauberung natürlich deutlich schwächer geworden, aber ganz hatte er sich ihr doch nicht entziehen können. - Trotz allem!
Heute Nachmittag sollte es auch wieder für ein paar Stunden auf die Kirmes gehen, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Andreas, in dessen Wohnung er seit vielen Jahren wohnen musste. Er hoffte, bis dahin das neue Computerprogramm in den Griff bekommen zu haben.
Kurz nach drei kam Andreas ins Zimmer, stellte sich hinter Florian und schaute ihm über die Schulter. „Komm, Florian, eine kleine Pause wird dir guttun. Mittag ist schon lange vorbei. Wir hatten doch vor, auf der Kirmes etwas zu essen. Also los, lass den Computer und auf geht’s!“
So streifte er mit seinem Bruder wenig später kreuz und quer über den Kirmesplatz, betrachtete längere Zeit die neuen Fahrgeschäfte mit ihrem immer kühneren Nervenkitzel, aß seine obligatorische Bratwurst und ließ sich schließlich von Andreas überreden, an einer Losbude mit augenscheinlich besonders attraktiven Preisen ein paar Lose zu kaufen..
„Mach du auf!“, bat er seinen Bruder, und während dieser seiner Bitte nachkam, betrachtete er versonnen und gedankenverloren das unmittelbar neben der Losbude stehende Kettenkarussell, eins der wenigen Karussells, das zwar modernisiert war, in seiner Art aber Jahrzehnte überdauert hatte.
Und plötzlich war er wieder der zehnjährige Junge, der zusammen mit seinen Freunden lachend und scherzend die Stufen zur Einsteigeplattform hinaufsprang und sich sofort einen Außensitz sicherte, auf dem man weit nach draußen fliegen konnte und mehr noch, wenn man sich vom Innensitz zusätzlich abstieß. „Hui, ich fliege, ich fliege“, jauchzte Florian glücklich mit ausgebreiteten Armen und wehenden Haaren. Runde um Runde flog Florian so um die Welt, bis plötzlich ein metallischer, explosionsartiger Knall die Zeit anhielt, und Florian flog, flog durch den Aufschrei der Umstehenden in eine lange Nacht.
„Und schon wieder, meine Damen und Herren, hat ein Glückspilz die freie Auswahl! Hier wieder einmal die freie Auswahl!“
„Mensch, Flori, das bist doch du, du hast die freie Auswahl gewonnen!“, holte Andreas seinen Bruder aus der Erinnerung zurück. „Mensch, sag doch, was du möchtest!“
„Ja, mein Herr, die freie Auswahl, was für ein Glück, das jeder haben kann: hier den Riesenlöwen, oder vielleicht den ferngesteuerten Hubschrauber, oder das Luftgewehr, oder vielleicht den Monstertruck... Sie entscheiden!“

Florian ließ seinen Blick langsam über die angepriesenen Dinge wandern, so als ob er sich nicht entscheiden könne. Dann richtete er sich mit leiser Stimme an den Mann mit dem Mikrophon, so dass dieser sich zu ihm hinunter beugen musste: „Von all diesen Sachen brauche ich nichts! Bitte schenken Sie eine davon irgendeinem Kind, das hier steht!“ Florian lächelte den Mann freundlich an und zu Andreas gewandt fuhr er mit kräftiger Stimme fort: „Komm, Andreas, wir fahren nach Hause!“ Gleichzeitig bewegte er mit  dem Daumen der linken Hand den kleinen Hebel, der seinen Rollstuhl in Bewegung setzte, einen verblüfften Losverkäufer zurücklassend und einen Bruder verwirrend, der nachdenklich hinter ihm her trottete.

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