Geld-Segen................................................................................................................................>> zurück zu Index Erzählungen


Das Ereignis
Die Zeiger der Uhr über dem Hallentor zeigten noch eine Viertelstunde bis zum Feierabend. Felix Steinbrecher begann gemächlich seinen Arbeitsplatz aufzuräumen: die Steinbearbeitungswerkzeuge säuberlich auf die Werkbank gelegt, den Druckluftschlauch eingerollt, die verschiedenen Drucklufthämmer ordentlich aufgehängt und Steinsplitter und Staub zusammengekehrt und in die große Tonne entsorgt. Felix Steinbrecher hatte vor fast 40 Jahren den Beruf ergriffen, den sein Name ihm vorgegeben zu haben schien: er war Steinmetz geworden und arbeitete nun schon von Anfang an in diesem Betrieb, der nur wenige Kilometer von seinem Heimatort entfernt lag. Auch heute noch war er davon überzeugt, den für ihn richtigen Beruf gewählt zu haben. Zwar hatte er nie das Bedürfnis verspürt, seinen Meister zu machen, da ihm die Theorie immer schon nicht besonders leicht gefallen war, aber dafür war er ein Mann der Tat. Er besaß ein feines Gespür für die in den unterschiedlichen Steinen verborgenen Möglichkeiten, aus ihnen ein Kunstwerk heraustreten zu lassen. Dieses Vermögen hatte ihm die Wertschätzung des Inhabers und die damit verbundene Sicherheit seines Arbeitsplatzes eingebracht.
So wie jeden Freitag hielt er mit seinem bescheidenen Auto – denn reich wird man als angestellter Steinmetz nicht – auf dem Nachhauseweg an der Lottoannahmestelle, um den Schein vom Mittwochslotto kontrollieren zu lassen und den für den kommenden Samstag abzugeben. Er war sich im Grunde nicht bewusst, warum er nie selber kontrollierte, ob er etwas gewonnen hatte oder nicht. Es war wie eine liebgewordene Routine, vielleicht auch ein Kokettieren mit der Glücksfee, erst in der Annahmestelle seinen Schein überprüfen zu lassen.
„Dann woll’n wir mal sehen“, sagte die Frau in der Annahmestelle und ließ die Spielquittung durch die Maschine laufen, während Felix insgeheim schon das „Da is nix drauf“ hörte.
„Oh!“ Ein überraschter Ausruf. „Da haben Sie aber schön was gewonnen, Herr Steinbrecher. Hier steht ‚Zentralgewinn‘.“ „Zentralgewinn?“, echote Felix Steinbrecher verständnislos. „Ja, wir können hier nur bis 1.000 € auszahlen. Alles andere wird von der Lottozentrale erledigt. Sie müssen mehr als 1000 € gewonnen haben. Warten Sie, hier gebe ich Ihnen das Anforderungsformular, das Sie ausfüllen und an die Zentrale schicken müssen. Ach, und dann gebe ich Ihnen auch mal die Gewinnzahlen vom Mittwoch mit. Da können Sie ja selber sehen, wie viele Richtige Sie gehabt haben. Schon mal  herzlichen Glückwunsch!“
Verwirrt nahm Felix Steinbrecher das Formular, seine Spielquittung und den Zettel mit den Lottozahlen entgegen, verließ das Geschäft und vergaß sogar, den Schein für Samstag abzugeben.
„Mehr als 1.000 €!“ „Mehr als 1.000 €?“ Auf der kurzen Fahrt nach Hause kreiste dieser Satz mit Ausrufe- und mit Fragezeichen in seinem Kopf. „Warum kontrollierte er eigentlich nicht immer sofort seinen Tipp? Dann wären solche Überraschungen nicht möglich!“
„Stell Dir vor, Anna, was mir heute in der Lottoannahmestelle passiert ist“, platzte es aus Felix heraus, als er sich im Flur die Jacke und Schuhe auszog und dann seiner Frau das Erlebnis erzählte. „Komm, wir vergleichen jetzt mal schnell die Zahlen, ich will wissen, was Sache ist!“
Eine ungeheure Nervosität ergriff Felix, als er nun die Spielquittung neben das Blatt mit den Ziehungszahlen legte, während seine Frau sich zu ihm hinüberbeugte und skeptisch- gespannt auf diese so unscheinbaren Papierstücke starrte.
Erster Tipp – nichts. Zweiter Tipp – nichts. Dritter Tipp – eine Richtige – nichts. Vierter Tipp – erste Zahl: stimmt, zweite Zahl: stimmt, dritte, vierte, fünfte, sechste Zahl: stimmen alle. Superzahl: nein, doch, stimmt auch! Felix sackte auf seinem Stuhl zurück, suchte den Blick seiner Frau, „sechs Richtige mit Superzahl“, flüsterte er entgeistert, ungläubig, geschockt, wie abwesend. „Sechs Richtige mit Superzahl“, wiederholte seine Frau fast tonlos. „Stimmt das wirklich? Haben wir uns auch nicht geirrt? Nochmal gucken!“, nahm sich Felix erneut die beiden Zettel vor. Doch, es stimmte. Da gab es keinen Zweifel mehr.
„Und wie viel mag das sein?“, bringt Anna mit vor Aufregung zitternder Stimme heraus. „Hol doch mal die Zeitung, da müssen doch die Quoten drin stehen“, antwortet ihr Felix, nicht minder aufgeregt.
Sie schlagen die Zeitung auf, suchen die Gewinnübersicht und erstarren, schauen sich ungläubig an: es gibt nur einen Gewinner mit sechs Richtigen und der richtigen Superzahl. Das sind s i e! Sieben Komma zwei Millionen Euro, sieben Komma zwei Millionen Euro!
Langsam, ganz langsam beginnen Anna und Felix zu begreifen, dass hier etwas ihr Leben Umwälzendes passiert ist. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, sind sie ... reich!

Planungen

 „Stell dir vor, Anna, stell dir vor, das sind – mal schnell überlegen – so ungefähr etwas über hundert Mercedes E-Klasse. Die könnte ich mir davon kaufen. Mein Gott, so viel Geld!“
„Ja, wir könnten endlich das Dach neu decken“, begann Anna nun zu planen, „das hatten Deine Eltern schon gewollt und nie das Geld dafür gehabt. Oder vielleicht könnten wir auch ein neues Haus bauen und das hier vermieten. Und ein neues Auto muss auf jeden Fall her. Und Urlaub, so einen richtigen Urlaub ... „Anna“, unterbrach sie Felix, „ich habe meinen Urlaub doch schon festgelegt. Ich habe ja nur drei Wochen. So einfach ist ...“ „Ja“, unterbrach ihn ihrerseits Anna, „wirst Du denn... musst Du denn überhaupt weiter arbeiten?“
Bis tief in die Nacht blieben die Fenster der Steinbrechers hell erleuchtet. An Schlaf war bei beiden nicht zu denken. Sie wechselten sich ab mit neuen Ideen, mit Plänen, mit Einwänden. Halten wir es geheim? Sagen wir’s, sagen wir’s nicht? Wenn überhaupt, wem sagen wir’s? Sagen wir es den Kindern? Jetzt, später? Kann es sein, dass die sofort die Hand aufhalten? Wie viel soll denn jeder bekommen? Und die Leute im Dorf, wenn die Verdacht schöpfen?
In all den nun realitätsnahen Träumen Fragen über Fragen, die sie jetzt, so kurz nach dem Ereignis einfach nicht zufriedenstellend beantworten konnten. Ihnen wurde im Laufe ihres Gespräches immer stärker bewusst, dass es so einfach nicht war, Lösungen zu finden.
Gegen Morgen schließlich kamen sie überein, nach dem Frühstück zunächst einmal in der Lottozentrale anzurufen und ihren Gewinnanspruch anzumelden. „Mit der Post schicke ich die Spielquittung auf keinen Fall“, meinte Felix. „Guck hier, Anna, auf der Gewinnanforderung steht ‚auf eigene Gefahr‘. Ne, ne, da ruf ich lieber erst mal an. Siehst Du, das geht auch samstags von 7.00 bis 16.00 Uhr.“
Das Telefonat gestaltete sich angenehm. Nachdem Felix sein Anliegen vorgetragen, die Spielquittungsnummer und dann – nach kurzer Verifizierung seines Anspruchs -  seinen Namen und seine Anschrift durchgegeben hatte, kam man überein, ihnen sofort am Montagmorgen einen Gewinnerbetreuer zu schicken, der ihnen dann dabei helfen würde, mit der neuen Situation angemessen umzugehen.
Der nächste  Anruf galt Günter Dieckhoff, Felix‘ Chef, um diesem mitzuteilen, dass er Montag leider nicht in den Betrieb kommen könne. Er würde einen Tag von seinem Resturlaub dafür nehmen. Nein, es sei nichts vorgefallen. Er müsse nur dringend mit seiner Frau etwas erledigen, was sich am Wochenende ergeben habe.
Mit gespannter Erwartung verbrachten Anna und Felix den restlichen Samstag und den ganzen Sonntag. Immer wieder verloren sie sich in Gedanken und in Träumereien über die Verwendung des Geldes. Es fiel ihnen ungeheuer schwer, nicht ihre drei Kinder anzurufen, die alle bereits ihre eigenen Familien gegründet und Gott sei Dank auch alle einem ordentlichen Beruf nachgingen. Es stellte eine enorme Überwindung dar, ihr Glück nicht, noch nicht, mit niemandem teilen zu dürfen, obwohl es doch förmlich aus ihnen heraus drängte.
Für dieses Verhalten lobte sie dann auch der Gewinnerbetreuer am Montag. „Es ist schwer, richtig mit Geld umzugehen“, meinte er, „aber noch schwieriger ist es, mit viel Geld umzugehen.“
Deshalb riet er ihnen dann auch, zunächst einmal das Leben so weitergehen zu lassen, als ob gar nichts Besonderes passiert sei. Sicher, das sei schwierig, aber machbar. Das Geld würde spätestens am Donnerstag auf ihrem Konto sein, so hätten sie einige Tage Zeit, sich einen vernünftigen Plan zurecht zu legen. Darüber hinaus hätten sie ja seine Telefonnummer und könnten ihn jederzeit anrufen, um seinen Rat einzuholen.
Dies und vieles andere waren zu besprechen, so dass der Gewinnerbetreuer erst am späten Nachmittag ihr Haus verließ, nachdem er gespürt hatte, dass seine aus der Erfahrung geborenen Empfehlungen auf fruchtbaren Boden gefallen waren.
„Weißt Du was, Anna“, meinte Felix dann immer noch überlegend, „ich habe eine Idee. Mal sehen, was Du davon hältst. Ich hole am Donnerstag nach der Arbeit die Kontoauszüge aus dem Automaten und am Freitag gehen wir beide zur Bank und lassen an Silke, Mario und Roman schon mal jeweils eine Million überweisen. Und am Sonntag rufen wir sie an und sagen, sie sollen am Montag mal auf ihr Konto gucken. Die werden völlig aus dem Häuschen geraten, glaube ich.“ „Gute Idee!“, stimmte Anna ihm zu und wunderte sich ein wenig darüber, wie leicht Felix jetzt schon die Millionen über die Zunge purzelten. „Und wir beide gehen anschließend mal bei Mercedes vorbei und suchen uns ein schickes Auto aus, so mit allem Drum und Dran“, fuhr Felix dann freudig fort. „Und ich kann ja ab morgen mal bei verschiedenen Dachdeckerfirmen anrufen und sie um einen Kostenvoranschlag für das neue Dach bitten“, fügte Anna an. „Prima, und morgen werde ich mit Günter über meine zukünftige Arbeitssituation sprechen. Ich möchte meinen Beruf nicht an den Nagel hängen, dafür mach‘ ich meine Arbeit zu gerne, und nur zu Hause zu sein ist ja auch nichts. Ich meine, im Grunde bin ich ja auf die Arbeit nicht mehr angewiesen. Ich hab‘s mal kurz ausgerechnet: ich müsste meinen aktuellen Nettolohn noch rund 133 Jahre bekommen um die 4 Millionen zu erreichen, die uns jetzt sowieso bleiben. Ich hab mir überlegt, ich möchte so etwas wie einen flexiblen Arbeitsvertrag mit Günter, der dir und mir auch genügend Urlaub verschafft, damit wir endlich ein bisschen durch die Welt fahren können, von der wir bisher ja nur wenig kennen. Denn“, zwinkerte Felix seiner Frau zu, „i c h bin jetzt am Drücker!“ Und ein bisschen triumphierend fügte er hinzu: „Endlich mal!“

 

Das Gespräch

Bevor Felix Steinbrecher die Richtung zu seinem Spind einschlug, ging er zunächst über den Hof zum Bürogebäude der Firma und dort zielstrebig zum Büro seines Chefs. Nach seinem Anklopfen wartete er das ‚Herein‘ ab und betrat das Büro, wo Günter Dieckhoff an seinem Computer arbeitete. „Morgen, Günter!“ „Morgen, Felix, was führt Dich zu mir?“ „Können wir mal reden? Hast Du ein bisschen Zeit?“ fragte Felix. „Klar, komm setz Dich! Worum geht’s denn? Ist irgendwas passiert?“ fragte Günter zurück.
„Ja, nein, nicht direkt. Doch!“, druckste Felix herum. „Hoffentlich nichts Schlimmes“, argwöhnte Günter und schaute Felix besorgt an. „Nein, im Gegenteil. Es geht um mein Arbeitsverhältnis hier bei Dir. Es ist nämlich ... also ... es ist etwas eingetreten, das mich in die Lage versetzt, auf meine Arbeit bei Dir nicht mehr angewiesen zu sein.“ Felix lehnte sich zurück, jetzt innerlich immer ruhiger und sicherer werdend, denn schließlich war er doch nicht als Bittsteller zu seinem Chef gekommen. Auch wenn er bisher immer in abhängiger Position in der Firma gewesen war, so war das jetzt zu Ende. Er liebte seinen Beruf, das ja, aber alle Trümpfe lagen jetzt in seiner Hand, denn die Zeit der Abhängigkeit hatte am letzten Freitag geendet. Deshalb fuhr er mit ruhiger Stimme fort: „Und da das so ist, möchte ich mit Dir einen neuen, individuell auf mich zugeschnittenen Arbeitsvertrag mit Dir machen.“
„Moment, Moment“, reagierte Günter sichtlich verwirrt. „Wie, ‚es ist etwas eingetreten‘? Was ist denn eingetreten? Da musst Du schon etwas genauer werden.“
Genau das hatte Felix gefürchtet. Es ließ sich also doch nicht verheimlichen. Er räusperte sich, setzte sich wieder gerade, schaute Günter direkt ins Gesicht und sagte leichthin: „Ich habe letzten Mittwoch den Jackpot geknackt.“
Völlig überrascht schaute Günter Felix an. „Du hast den Jackpot geknackt“, wiederholte er leise wie um sich selbst zu überzeugen, dass er tatsächlich nicht falsch gehört hatte. Ihm gegenüber hatte eben noch sein Mitarbeiter vieler Jahre gesessen, ganz normal wie in vielen Situationen vorher auch, und jetzt saß dort an der gleichen Stelle ein Millionär, äußerlich unverändert, aber so entschieden anders als der Steinmetz, den er bisher gekannt hatte. Es dauerte  noch einige Sekunden, bis Günter diese Nachricht verdaut hatte, aber dann sprang er von seinem Stuhl auf, beugte sich über den Tisch, schüttelte kräftig Felix‘ Hand und rief geradezu euphorisch: „Mensch Felix, ganz herzlichen Glückwunsch! Mensch, da hat es aber wirklich den Richtigen getroffen. Mensch, find‘ ich das toll! Wirklich, kaum zu glauben!“
In Felix stieg so etwas wie zufriedener Stolz auf, als ihn die Reaktion seines Chefs in dieser Form überrollte. Seines Chefs? Vielleicht wäre es besser, ihn als seinen Ex-Chef zu denken, denn die zukünftigen Regeln konnte Felix selbst bestimmen, weil er sich aus freien Stücken dazu entschlossen hatte, seinen Beruf nicht aufzugeben. Dies musste auch Günter sofort klar geworden sein, dass die Verhältnisse jetzt völlig anders lagen.
„Nun gut“, nahm Günter das Gespräch wieder auf, „wie hast Du Dir denn Deine Tätigkeit hier jetzt vorgestellt?“, mit dieser Frage Felix gleich die Initiative überlassend.
„Eine Bedingung habe ich vorher noch“, ließ Felix die Frage zunächst unbeantwortet, „Du musst mir versprechen niemandem von meinem Gewinn zu erzählen. Ich möchte nicht, dass das die Runde macht!“ „Klar, versteh‘ ich, versprochen“, meinte Günter, „aber jetzt mal zu den Details.“
Sie einigten sich darauf, dass Felix zunächst mit Beginn des nächsten Monats eine Auszeit von sechs Monaten nehmen würde. Seine künftige Arbeitszeit würde vier Stunden pro Tag, also 20 Stunden pro Woche betragen, mit flexibler Option auf den Vor- oder Nachmittag, nach vorheriger Ankündigung selbstverständlich. Sein Urlaubsanspruch würde 90 Tage pro Jahr betragen, 30 Tage bezahlt und 60 Tage unbezahlt. Kommenden Freitag müsse er auch frei nehmen, da sicherlich in der Bank einiges zu regeln sei.
Zufrieden mit sich und dem ausgehandelten Ergebnis begab sich Felix nach dem Gespräch mit einem ungeheuren Elan an seine Arbeit. Alles um ihn herum erschien ihm in einem völlig neuen Licht. Man sah ihm seine Gedanken nicht an, doch in seinem Innern manifestierte sich ein magischer Satz:  „Ich bin Felix Steinbrecher, ich bin wer!“
Günter Dieckhoff war kurz nach dem Gespräch mit seinen Notizen zu seiner Sekretärin gegangen. „Roswitha, bitte nehmen Sie den Arbeitsvertrag von Felix Steinbrecher und setzen Sie eine Notiz darunter, dass dieser Vertrag durch einen neuen ersetzt wird, mit heutigem Datum. Dann fertigen Sie bitte einen neuen aus, hier haben Sie die nötigen Daten, und geben ihn mir zur Unterschrift.“
Roswitha Wächter wunderte sich sehr, als sie den neuen Arbeitsvertrag mit diesen noch nie gesehenen Konditionen aufsetzte. Sie erzählte am Abend, als sie nach Hause gekommen war, ihrer Mutter und später auch ihrem Freund Marius davon. Sie rätselten eine Zeitlang herum, wie ein solcher Vertrag zustande kommen könne und, was noch rätselhafter sei, wieso Felix Steinbrecher sich das leisten könne. Marius schloss die Vermutungen grinsend ab: „Naja, der hat bestimmt im Lotto gewonnen!“ In Roswitha aber setzte sich dieser Gedanke fest, denn das schien ihr die einzig plausible Erklärung zu sein.
Günter Dieckhoff konnte die ungeheure Neuigkeit, die er am Morgen erfahren hatte, nicht länger nur allein in sich tragen und erzählte seiner Frau beim Abendbrot von den neuen Lebensbedingungen, in denen sich Felix Steinbrecher nun befand. Allerdings vergaß er, seiner Frau das Versprechen auf Verschwiegenheit abzunehmen. Warum auch, es war ja seine Frau.

In der Bank

Am Freitagmorgen schliefen Anna und Felix ein bisschen länger als normal, etwas, was sie während der Woche schon lange nicht mehr gemacht hatten. Innerlich waren sie beide nun etwas ruhiger geworden. Sie hatten begonnen sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie nun Millionäre waren, auch wenn es sich ab und zu so anfühlte, als ob das alles nicht wirklich, nicht echt sein könnte. Aber das waren nur kurz aufblitzende Gedankensplitter. Viel stärker war das Gefühl einer nie gekannten Sicherheit und eines wachsenden Selbstbewusstseins, in dem sie ruhten und das sie, so spürten sie es beide in ihrer ganzen Person, von den übrigen Einwohnern abzuheben begann. Dazu beigetragen hatte natürlich der Kontoauszug, den Felix am Tag zuvor am Auszugsdrucker abgeholt hatte. Immer wieder hatten sie diese bis vor kurzem noch unvorstellbaren Zahlen angeschaut, weil dies einfach zum Prozess der Verinnerlichung gehörte.
Nach dem gemütlichen Frühstück stand Anna in der Küche und wusch das Geschirr ab – ja eine neue Küche könnten sie auch prima gebrauchen -, als plötzlich das Telefon klingelte. Felix hob den Hörer ab: „ Ja, hallo!“
„Guten Morgen, Herr Steinbrecher. Andreas Schiffer, Sparkasse Rothenbühl. Herr Steinbrecher, bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie störe, aber unser System hat uns eine –äh – bedeutende Gutschrift auf Ihrem Konto gemeldet. Darf ich Ihnen zunächst einmal unseren herzlichsten Glückwunsch aussprechen. Nun, da Sie schon seit so vielen Jahren zu unseren Kunden gehören, wollen wir Ihnen natürlich auch in dieser – äh – neuen Situation mit Rat und Tat zur Seite stehen. Darf ich Sie vielleicht als Ihr persönlicher Anlageberater in den nächsten Tagen einmal aufsuchen, um mit Ihnen ein mögliches gemeinsames Vorgehen abzusprechen? Wann würde es Ihnen denn passen?“
„Das kann ich so nicht sagen, da muss ich erst einmal mit meiner Frau reden“, antwortete Felix zögernd, „wir wollen sowieso nachher zur Bank kommen, um einiges zu erledigen. Da können wir ja nochmal darüber reden, Herr Schiffer.“
„Sehr gut, sehr gut, Herr Steinbrecher, dann fragen Sie doch bitte gleich nach mir. Wann wollen Sie denn kommen?“
„Wir dachten, so um zwölf.“
„Ausgezeichnet. Um es gleich zu sagen, ich bin jederzeit für Sie da. Ich richte mich selbstverständlich gern nach Ihnen. Bis nachher dann!“
Felix legte das Telefon wieder in die Schale zurück und drehte sich zu seiner Frau um. Sie sah ihm gleich an, dass Wut in ihm hochstieg. „Das war der Schiffer von der Sparkasse. Er weiß natürlich von unserem Gewinn und schwupp, schon will er in der Sache mitmischen, wohl seinen Teil vom Kuchen abbekommen. Nicht er selbst, sondern die Bank natürlich. Weißt Du noch, das ist derselbe Typ, der mir vor fünf Jahren die Erhöhung meines Dispos abgelehnt hat. Und vor acht Jahren musste ich ihm einen Bürgen für den Kredit für Silkes Studium bringen. Sonst hätte ich den Kredit nicht gekriegt und Silke hätte das Studium schmeißen müssen. Und jetzt schmiert er mir Honig ums Maul. Mit mir nicht, da kannst Du Dich darauf verlassen! Jetzt werde i c h ihm zeigen, wo’s lang geht!“
„Ganz ruhig bleiben, Felix“, sagte Anna und tätschelte seinen Arm, „es ist das erste Mal, dass wir nichts von der Bank wollen. Und jetzt will die Bank etwas von uns. Das ist ein tolles Gefühl, das macht uns stark. Vielleicht wäre es auch keine schlechte Idee, die Bank zu wechseln, da unsere doch mit schlechten Erinnerungen verknüpft ist. Banken sind zwar alle gleich, aber unbelastet und mit viel Geld in eine neue Bank einzusteigen verschafft uns sofort eine mächtigere Position. Das hast Du jetzt an Herrn Schiffer gesehen.“
„Du hast Recht, Anna, das ist eine prima Idee. Lassen wir Herrn Schiffer heute reden und ihn merken, wie klein er für uns ist. Und nächste Woche wechseln wir die Bank! Auf geht’s, es ist schon halb zwölf.“
Als sie pünktlich das vor kurzem aufwendig renovierte Foyer der Sparkasse betraten, kam Herr Schiffer, der wie zufällig auch gerade im Eingangsbereich stand, lächelnd auf sie zu, begrüßte Anna und Felix mit einem kräftigen Händedruck und einem „Oh, da sind Sie ja! Schönen guten Tag! Folgen Sie mir bitte!“ Geschäftig ging er ihnen voran, vorbei an anderen Bankangestellten, die das Ehepaar Steinbrecher zum Teil verstohlen musterten, zum Teil aber auch mit Namen grüßten, so dass Felix seiner Frau zuraunte: „Merkst du was. Die wissen alle Bescheid.“ Dann öffnete Herr Schiffer die Tür zu einem Büro und ließ sie eintreten. Rechts von einem großen Schreibtisch mit allen möglichen Akten und Papieren befand sich ein runder Tisch, auf dem eine richtige Kaffeetafel angerichtet war. „Bitte setzen Sie sich doch!“, forderte der Banker sie auf. „Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee und ein bisschen Gebäck anbieten?“ Während die Steinbrechers zustimmend nickten, „Ja, vielen Dank!“ schoss es Felix durch den Kopf: „So ist das also, wenn man viel Geld hat. Interessant, interessant! Jetzt, Junge, zeige ich dir mal, wo es lang geht!“ Dabei lehnte er sich bequem und entspannt zurück – die etwas nach vorn gebeugte sonst übliche Bittstellerhaltung war für immer vorbei -  und schaute Herrn Schiffer abwartend, aber freundlich an. Warum auch nicht, hinter die Stirn konnte ihm ja niemand schauen.
„Darf ich Ihnen noch einmal unseren herzlichsten Glückwunsch aussprechen“, begann Herr Schiffer nun sein geplantes Gespräch, „das ist ja wirklich eine tolle Sache, die Ihnen da widerfahren ist. Ganz sicher wird sich bei Ihnen ja nun Einiges in Ihrem Leben ändern. Ich möchte Ihnen versichern, dass wir als Spezialisten für Geldanlagen uns Ihnen natürlich als Partner anbieten wollen, denn auf dem komplizierten Kapitalmarkt kann man leicht die Übersicht verlieren, wenn man nicht jeden Tag damit zu tun hat. Die Zinsen sind zwar zur Zeit nicht besonders hoch, aber selbst bei einer angenommenen Verzinsung Ihres Kapitals von nur 2 Prozentpunkten würde das bedeuten, dass Sie pro Jahr 140.000 € nur an Zinsen zu erwarten hätten, ohne dass Ihr Kapital auch nur ein kleines bisschen geschmälert würde. Natürlich muss man dies steuerlich .....“ „Ja, ja, ja“, unterbrach Felix den Redefluss seines Gegenübers, „wissen Sie, wir haben das Geld erst seit gestern auf dem Konto, und wir wollen erst einmal ein bisschen zur Ruhe nach diesen aufregenden Tagen kommen. Über Geldanlagen können wir ja eventuell zu einem späteren Zeitpunkt sprechen, nächste oder übernächste Woche vielleicht. Wir lassen uns da von niemandem – bei diesem Wort erhob er ein bisschen die Stimme, um dem „niemandem“ Nachdruck zu verleihen – treiben. Heute wollen wir nur Folgendes: Zuerst lösen Sie bitte den Restkredit ab, der noch offen steht. Das sind so um läppische 5.000. Dann überweisen Sie bitte auf diese drei Konten – dabei überreichte er Herrn Schiffer einen Zettel – jeweils eine Million. Und dann hätte ich gern 150.000 in bar mitgenommen, in 500er-Scheinen. Jetzt! Bitte!“ Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Felix Gesicht, nachdem er in dieser Form Herrn Schiffer über den Mund gefahren war, der seinerseits, wenigstens äußerlich, nach einigen Sekunden die Fassung wiedergewonnen hatte. „Ja! Selbstverständlich! Klar! Vielleicht darf ich Ihnen ein bisschen Informationsmaterial, das ich zusammengestellt habe, heute mitgeben. Da können Sie sich...“ „Nein, danke, heute nicht!“, unterbrach ihn Felix erneut. „Heute nur das Geld!“
„Ja, gut“, beeilte sich Herr Schiffer nun zu sagen, „das dauert allerdings ein bisschen. Da muss ich erst in den Tresor. Bitte warten Sie hier und bedienen Sie sich. Ich bin bald wieder zurück.“
„Warst Du nicht ein bisschen zu brüsk?“, fragte Anna ihren Mann, als Herr Schiffer den Raum verlassen hatte. „Mag sein, mag sein, Anna. Aber was hat sich denn dieser Typ eingebildet? Dass wir schon heute irgendwelche Vereinbarungen mit ihm treffen? Er sollte merken, dass die Dinge mit uns jetzt anders laufen. Ich bin nicht mehr der Steinmetz Felix Steinbrecher, dem man eine Dispoerhöhung abschlagen kann. Ich bin jetzt der Millionär und Steinmetz Felix Steinbrecher, der nie wieder einen Dispo braucht. Und das soll der Schiffer erst mal verinnerlichen!“ „Und warum wolltest Du denn auf einmal Bargeld, und dann gleich so viel?“, wollte Anna von Felix wissen. „Ach, das kam mir so in den Sinn. Wir wollen doch gleich zu Mercedes und da will ich mal sehen, was der Verkäufer für ein Gesicht macht, wenn ich ihm das Geld auf den Tisch knalle. Außerdem, tut es nicht gut, wenn man in einer Bank so herrlich  bedient wird und nicht mehr am Automaten seine paar Kröten ziehen muss? Also, ich genieße das!“
Nach einer knappen Viertelstunde öffnete sich die Tür und Herr Schiffer „Hallo, da bin ich wieder!“ kehrte mit einer kleinen Kassette in das Büro zurück. Er entnahm ihr drei kleine, auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Geldbündel, jedes 160 x 82 mm und exakt ein Zentimeter dick. „Hier bitte, sagte Herr Schiffer, „50, 100, 150 Tausend. Wenn Sie mir bitte die Auszahlung unterschreiben wollen.“
Felix verließ das Büro mit einem unbeschreiblichen Hochgefühl. Nie zuvor hatte er so viel Geld auf einmal gesehen, geschweige denn angefasst. Und jetzt steckten in der Innentasche seiner Jacke die drei Geldbündel, die nur einen kleinen Teil dessen darstellten, was noch auf dem Konto lag. Am liebsten wäre er gehüpft und gesprungen, hätte allen Leuten zugerufen „Schaut her, ich bin jetzt reich, ich werde nie mehr Geldsorgen haben!“, aber stattdessen ging er mit Anna Arm in Arm ruhig und mit unbewegtem Gesicht durch das Foyer wieder nach draußen. Ein neues Leben wartete auf ihn und seine Familie.

Der Autokauf

Vom Parkplatz der Sparkasse fuhren sie direkt zu der nahegelegenen Mercedesvertretung. Unterwegs meinte Felix leichthin: „Ich war am Mittwoch schon mal hier und habe mir die Autos angeguckt. Ursprünglich hatte ich ja vor, uns eine E-Klasse zu kaufen, aber jetzt denke ich doch, dass wir uns auch eine S-Klasse leisten können.“ Und grinsend fügte er hinzu: „Das tut unserem Konto noch nicht mal weh!“ „Gut, das überlasse ich Dir“, antwortete Anna fröhlich, „von Autos verstehst Du ja sowieso mehr als ich. Aber die Küche und das Badezimmer, das ist dann hauptsächlich meine Sache. Ich möchte nur ein bequemes, aber auch schickes Auto, mit dem man auch gut verreisen kann.“
Sie parkten auf dem Kundenparkplatz und betraten den Verkaufssalon mit den Neuwagen. „Guck, Anna, da hinten der metallic graue, der gefällt mir. Der hat alles, was heutzutage ein modernes Auto haben muss.“ Auf dem Weg zu diesem Auto näherte sich ein elegant gekleideter Verkäufer mit Anzug und Krawatte: „Sie schauen sich um, ja?“ „Ja ... auch!“, antwortete Felix, „wir möchten nicht nur anschauen, wir möchten auch ein Auto kaufen.“ 
„Haben Sie da an ein bestimmtes Modell gedacht?“, fragte nun der Verkäufer, während seine Augen von oben bis unten über die beiden Personen vor ihm huschten  und sie sekundenschnell in eine A- oder B-Klasse einordneten. „Ja, haben wir“, antwortete Felix, „ich war am Mittwoch schon mal da und wir hätten gern den metallic grauen da hinten.“ Der Verkäufer ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, begleitete die beiden zu dem Wagen und sagte: „Ja, das ist im Moment unser Spitzenmodell, was wir hier auf Lager haben. Das ist ein S-500 Benziner Automatik, ein absoluter Luxuswagen. Er vereint alles, was im Moment technisch möglich ist.“ Damit begann er einen Vortrag über die technischen Details, öffnete Türen, beschrieb das Interieur, erläuterte die Fahreigenschaften, zählte die Sonderausstattungselemente auf und sprach und sprach. Endlich meinte er: „So etwas hat natürlich auch seinen Preis. So wie der Wagen hier steht, kostet er 138.900 €.“ Er vermutete wohl, dass die beiden sich nun umdrehen und einem anderen Auto zuwenden würden, doch er traute seinen Ohren nicht, als Felix ganz ruhig sagte: „Prima, den nehmen wir!“
„Wir haben natürlich verschiedene Finanzierungsmodelle“, fuhr der Verkäufer nun fort, nachdem er tief Luft geholt hatte. „Sie können, mit einer entsprechenden Anzahlung, das Fahrzeug leasen oder einen normalen Ratenplan vereinbaren...“ Felix unterbrach ihn: „Ich will keine Anzahlung machen und ich will auch keinen Ratenplan! Ich überweise auch nichts! Ich zahle bar!“ Vergnügt und mit einem gönnerhaften Lächeln betrachtete Felix den Verkäufer, als der „Bar?“ hauchte und sichtlich verwirrt seinen Blick erwiderte. „Ja, bar!“ wiederholte Felix nun, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt sei. „Können wir den Kaufvertrag machen?“
Sie wurden in das Büro gebeten, wo Felix noch erwähnte, dass sie ihren alten Wagen in Zahlung geben wollten und dass einem Preisnachlass bei dieser Summe wohl nichts im Wege stehen würde. Das könne er selbst nicht entscheiden, meinte der Verkäufer daraufhin, das müsse er den Geschäftsführer fragen, und verließ das Büro, die Steinbrechers um ein wenig Geduld bittend.
„Schauen Sie sich die beiden in meinem Büro an, Herr Mosbichler, die wollen den 500er hinten kaufen und wollen bar bezahlen. Bar!“
„Die wollen was?“, fragte der Geschäftsführer ungläubig. „Sie haben richtig gehört“, antwortete der Verkäufer, „die wollen den 500er bar bezahlen. Und ihr Auto wollen sie in Zahlung geben und auch noch einen Preisnachlass.“
Herr Mosbichler erhob sich von seinem Platz und ging hinüber zur großen Glasscheibe, durch die man in alle Verkaufsbüros blicken konnte und tat so, als ob er irgendetwas in einer Akte suchte. Dabei betrachtete er verstohlen die Steinbrechers.
„Kommen Sie“, sagte er zum Verkäufer, „wir regeln das jetzt zusammen. So etwas ist auch mir in meiner ganzen Berufspraxis noch nicht passiert. Aber wenn mich nicht alles täuscht, dann sind das Leute, die irgendeinen großen Gewinn gemacht haben und das jetzt ausspielen wollen. Okay, sollen sie. Wir wollen verkaufen, und das allein zählt.“
Die anschließenden Formalitäten waren schnell erledigt, nachdem sie sich über die Inzahlungnahme des alten Autos und den Preisnachlass geeinigt hatten. Felix griff in seine Jackentasche und holte die drei Geldbündel hervor. Vom dritten Bündel zählte er die Scheine ab, die nun zu viel waren und steckte sie wieder zurück in die Jacke. Sie vereinbarten, dass das Autohaus am Montag den Wagen zulassen würde und dass Steinbrechers ihn dann am Mittag abholen könnten.
Felix und Anna stiegen mit zufriedener Miene nach diesem Abschluss in ihr Auto, immer noch beobachtet von zwei ebenfalls zufriedenen Gesichtern im Autohaus. Am Abend würden Herr Mosbichler und der Verkäufer bestimmt zu Hause von diesem Kunden erzählen, dem sie heute ein Auto verkauft hatten.
„Ein wunderschönes Auto werden wir haben“, sagte Felix versonnen zu seiner Frau, „aber das ist erst der Anfang der schönen Dinge in dem Leben, das jetzt auf uns wartet, das wir h a b e n werden.“

Im Dorf

Am Samstagnachmittag trafen sich die Damen des Kartenclubs bei Frau Dieckhoff zum Kartenspielen. Wie üblich wurde nicht nur gespielt, sondern diese Nachmittage waren auch eine günstige Gelegenheit, die neuesten Dorfnachrichten auszutauschen. Die tollste Nachricht hatte heute Frau Dieckhoff selbst. „Stellt euch vor“, begann sie mit wichtiger Miene, „wir haben bei uns einen Arbeiter, also, ihr ratet niemals, was dem passiert ist!“ Sie machte eine kleine Kunstpause, damit sich die gespannte Erwartung noch ein bisschen steigern konnte. „Der hat letzten Mittwoch den Lotto-Jackpot geknackt. Sieben Komma zwei Millionen hat er abgesahnt.“ Das war nun wirklich eine Wahnsinnsnachricht. „Wer? Wer ist es denn?“, riefen die Damen durcheinander. „Ihr kennt ihn alle“, ließ Frau Dieckhoff die anderen noch ein wenig zappeln, „es ist ... Felix Steinbrecher!“ „Der Felix? Der?“ Ungläubiges Erstaunen machte sich breit. „So ein Glückspilz!“, tönte es in der Runde. Und schon machten sich die Damen daran, das Leben von Felix Steinbrecher genauer unter die Lupe zu nehmen und rätselzuraten, was dieser nun wohl mit all dem Geld anfangen würde. Für die nächsten Stunden war deshalb für reichlich Gesprächsstoff gesorgt, so dass das Kartenspielen jetzt vollkommen unwichtig geworden war.
Zur gleichen Zeit telefonierte wenige hundert Meter entfernt Roswitha Wächter mit ihrer Freundin und erzählte ihr von dem seltsamen Arbeitsvertrag, den sie heute für einen Arbeiter des Steinmetzbetriebes hatte machen müssen. Ihre Freundin bestärkte sie in der Vermutung, dass das nur mit einem größeren Lottogewinn oder ähnlichem zu erklären sei. Jede würde in ihrem Umkreis aber die Fühler ausstrecken, um das Geheimnis zu lüften.
Schon am Sonntagmittag hatte sich die Nachricht schon fast im gesamten Dorf verbreitet. Der Kartenclub, Roswitha Wächter und ihre Freundin und auch einige Bankangestellte  hatten ganze Arbeit geleistet.
Am Nachmittag hatten sich Felix und Anna, wie es bei ihnen Tradition war, gerade zum Kaffeetrinken gesetzt, als auf der Straße plötzlich eine Musikkapelle zu spielen anfing. Neugierig geworden traten sie an das Fenster und sahen zu ihrer Verblüffung den Musikverein vor ihrem Haus stehen, begleitet von einigen Gemeindevertretern und vielen Nachbarn, die dem Spektakel zuschauten. „Du, Anna, die spielen für uns. Das gibt es doch gar nicht“, sagte Felix leicht verwirrt, „ ich glaube, wir sollten jetzt mal an die Tür gehen.“
Als sie die Tür öffneten, begannen die Zuschauer zu applaudieren, die Kapelle unterbrach ihr Stück und spielte einen Tusch und der Ortsvorsteher ging auf sie zu und begann eine kurze Rede: „Wir alle, liebe Anna und lieber Felix, sind heute hierher gekommen, um Euch ganz herzlich zu Eurem fantastischen Lottogewinn zu gratulieren.“ Tusch der Kapelle! „Wir sind stolz darauf, dass Ihr zu unserer Dorfgemeinschaft gehört und hoffen, dass Ihr weiterhin lebendige und treue Mitglieder dieser Gemeinschaft bleiben werdet.“ Tusch der Kapelle! „Wir wünschen Euch alles, alles Gute!“ Tusch! „Es lebe der Lottokönig Felix Steinbrecher! Unser Lottokönig von Mittelstedt!“ Großer Tusch!
Was blieb den beiden übrig als eine freundliche Miene aufzusetzen. Felix holte schnell die beiden einzigen Kästen Bier aus dem Keller und die zwei Flaschen Korn aus dem Wohnzimmerschrank. Es dauerte keine zehn Minuten, da war alles ausgetrunken, die Kapelle spielte noch ein Stück, und Minuten später war die Straße  wieder wie ausgestorben und so still wie zuvor.
Felix lehnte im Flur an der Wand und seufzte leise: „Mensch, Anna, das gefällt mir aber gar nicht. Da kommt noch was auf uns zu, glaub mir. Da haben aber einige schnell den Stein ins Rollen gebracht. Mensch, Mensch!“
„Das können wir jetzt auch nicht mehr ändern“, entgegnete Anna, „komm, wir wollen doch noch die Kinder anrufen, damit sie morgen auf ihre Konten gucken.“
Für Silke, Mario und Roman gestalteten sich die Telefonanrufe überaus geheimnisvoll, weil sich weder Felix noch Anna dazu verleiten ließen, auch nur die kleinste Andeutung zu machen, warum die drei auf ihren Konten nachsehen sollten. Die großen Fragezeichen lösten sich erst am folgenden Tag, als die drei Kinder mit ihren Familien sich nach der Kenntnisnahme der Überweisungen zu einem großen Familientreffen in Mittelstedt eingefunden hatten und schon vor dem Haus den nagelneuen S-500 bewunderten, den Felix am Mittag bereits abgeholt hatte. Was war das für eine Freude, ein Lachen, ein aufgeregtes Durcheinanderreden. Felix musste alles von Anfang an haarklein erzählen, gemeinsam wurden Pläne gemacht, teilweise wieder verworfen, Champagner, echter, wurde aufgemacht und immer wieder auf das Glück, das nun die ganze Familie erfasst hatte, angestoßen. Dass das Haus für so viele Menschen zu klein wurde, störte heute niemanden. Am späten Abend kam man überein, am nächsten Wochenende eine große Familienfeier zu organisieren. Mario würde das übernehmen und ein Restaurant in der Nähe mit der Ausrichtung beauftragen. Weit nach Mitternacht fuhren die drei Geschwister wieder nach Hause, froh darüber, dass alle nicht sehr weit entfernt wohnten. Sie hatten für den Dienstag ohne sich abzusprechen einen Tag Urlaub genommen, denn es war ja jedem klar gewesen, dass nach dem Besuch bei den Eltern an Arbeit nicht zu denken war.

Vereinsleben

Am Dienstagnachmittag, Felix war gerade nach Hause zurückgekehrt, klingelte es an der Haustür. Draußen stand der Vorsitzende des Musikvereins und fragte, ob er kurz hineinkommen dürfe. Während Anna in der Küche einen Kaffee bereitete, drückte der Vorsitzende zunächst den beiden noch einmal persönlich seinen herzlichsten Glückwunsch aus, kam auf dies und das zu sprechen und rückte schließlich mit seinem eigentlichen Ansinnen heraus. Er wolle zwar nicht aufdringlich erscheinen, aber jetzt, wo sich eine solche Situation ergeben habe, wolle er anfragen, ob das Ehepaar Steinbrecher dem Musikverein nicht mit einer kleinen Spende helfen könne, zumal sie beide ja auch schon seit vielen Jahren passive Mitglieder seien. Es fehlten leider Musikinstrumente, andere seien zu überholen, die Verstärkeranlage bedürfe einer dringenden Reparatur, die Mikrofone seien auch nicht mehr so recht in Ordnung, alles in allem wäre die Arbeit des Musikvereins insgesamt gefährdet. Aber mit einer Summe von ungefähr 10.000 € würde man wohl hervorragend zurecht kommen und weiterhin zum kulturellen Leben des Dorfes beitragen können.
Der Vorsitzende des Musikvereins war nur der erste. Im Laufe der nächsten drei Wochen kamen der Männergesangverein, der Kirchenchor, der Ortsvorsteher – der Fußboden der Mehrzweckhalle müsse dringend erneuert werden und es fehlten zur Finanzierung nur 15.000 € -, der Fußballverein für neue Trikots, Tore, Bälle und die Sanierung der Umkleiden, der Faschingsverein, der Radsportverein, der Boule-Club, die katholische und die evangelische Kirchengemeinde, der Kindergarten, der Gartenbauverein, der Kirchenchor, die Musikschule, der Sportverein, der Jugendclub, die Folkloregruppe, die Feuerwehr, der Gewerbe- und Verkehrsverein, der Wanderverein, die DLRG und der Schwimmbad-Förderverein, die Schulen und sogar der eine oder andere Privatmann standen für ein Darlehen, dass man natürlich zurückzahlen würde, auf der Schwelle.
Felix behielt nach außen hin seine Freundlichkeit, obwohl es ihm immer mehr Mühe verursachte, sie beizubehalten. Aber wenn er wieder mit Anna alleine war, schimpfte er: „Ich halte das nicht mehr aus, diese dauernde Bettelei. Wenn das so weitergeht, und es wird weitergehen, werden die alle uns in Kürze vollkommen ausgenommen haben. Aber nicht mit uns!“ Anna pflichtete ihm bei. Sie meinte: „Weißt Du, wir werden jetzt erst einmal, so, wie wir es vorgehabt haben, eine lange Reise machen, hier für einige Zeit verschwinden. Und auf dieser Reise überlegen wir in Ruhe, wie die ganze Sache weitergehen soll.“

Das neue Leben

Nachdem Steinbrechers von ihrer Weltreise zurückgekehrt waren, kündigte Felix als erstes seine Stelle im Steinmetzbetrieb Dieckhoff. Herr Dieckhoff wollte ihn zwar mit aller Macht von diesem Entschluss abbringen, aber Felix meinte nur mit Bestimmtheit, dass für ihn und seine Frau ein neues Leben begonnen habe, in dem Abhängigkeiten keine Rolle mehr spielten. Im zweiten Schritt beauftragten sie einen Immobilienmakler aus der Großstadt, ihnen ein nicht allzu kleines Haus in der unmittelbaren Nähe von Wellershoven, einer etwa 650 Kilometer von ihrem jetzigen Wohnort entfernten Kleinstadt in einer reizvollen Umgebung, zu suchen. Felix wollte dort als freier Steinmetz arbeiten, um seinen Beruf nicht ganz aufgeben zu müssen. Außerdem sollte das Haus auch genügend Platz für die Besuche der Kinder und Enkel bieten und über einen schönen großen Garten verfügen, in dem sie auch einen Pool bauen könnten.
Als nächstes kauften sie sich eine Wohnung in der Nähe ihrer Kinder, damit sie sich öfter in deren Nähe aufhalten könnten, um sich auch zurückziehen zu können und nicht in Gefahr zu geraten, ihnen auf die Nerven zu fallen.
Dann eröffneten sie ein Konto bei einer Bank in Wellershoven und kündigten das alte bei der Sparkasse Rothenbühl, ohne Herrn Schiffer die Chance gegeben zu haben, mit ihnen noch einmal über Geldanlagen zu sprechen.
Nach einigen Monaten hielt ein Umzugsunternehmen vor der Tür des Hauses Steinbrecher, um die Möbel zu verladen und mit für die Nachbarn unbekanntem Ziel fortzufahren. Wenige Tage später begannen verschiedene Firmen das Dach zu erneuern, neue Bäder und eine neue Küche einzubauen und das Haus komplett zu renovieren. Als alle Arbeiten beendet waren, hängte ein Makler ein großes Schild an das Haus: „Zu verkaufen!“
Anna und Felix Steinbrecher kehrten nie wieder in das Dorf zurück, in dem sie so lange gelebt hatten. Sie hatten in ihrem schon etwas fortgeschrittenen Alter tatsächlich ein neues Leben in einem Ort, in dem niemand je von ihrem Lottoglück erfuhr, begonnen.

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